Die Zeitbestie
Bestimmtheit weiß ich nur, dass du beim derzeitigen Zuwachs an Beschleunigung nach ein paar Sprüngen jeweils Millionen Jahre weiter in die Vergangenheit gelangst.
»Das meinst du doch nicht ernst?«
O doch, aber wie ich schon sagte: Die Parameter sind vage. Falls du der Kurve folgst, die ich derzeit zu errechnen versuche, landest du schließlich außerhalb des Darstellungsbereichs – nachdem du einen Sprung in die Unendlichkeit ausgeführt hast. Aber andererseits habe ich bislang vielleicht nur einen Teil der Kurve im Blick, und wer möchte schon sagen, ob du überhaupt einer Kurve folgst? Die Sache ist die: Du lernst inzwischen, die Verschiebungen zu steuern, und Gott weiß, welche Faktoren sonst noch ins Spiel kommen. Der nächste Sprung könnte ebenso leicht ein Jahr überbrücken wie eine Million Jahre.
»Ach, zum Teufel damit!«, sagte Polly laut und tastete sich nach innen, um dieses Netz zu fassen und ihrem Willen zu beugen. Diesmal erfolgte kein Transit über das schwarze Meer wie zuvor, und sie fand sich augenblicklich in jenem euklidischen Raum wieder, den sie manipulieren konnte, wenn auch nur wenig. Sie gab der Sache nur ein paar Sekunden, holte sich heraus und kippte rücklings in eine Schicht aus weichen Blättern in einem taghellen Wald voller lärmender Bewohner. Sie schnappte eine Lunge voll kalter Morgenluft.
Natürlich verpfuschst du jedes Mal, wenn du das tust, meine Berechnungen noch mehr.
Polly wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.
Cheng-yi bahnte sich einen Weg unter dem Leichenberg hervor und sah sich ungläubig um. Die Angriffseinheit der Volksarmee hatte die Überlebenden und die verletzten Ponys mit Bajonetten aufgespießt und anschließend die Leichen geplündert. Von der größten Räuberbande im Bezirk Miyi blieben nicht mehr als die im Tal verstreuten Leichen der Niedergemetzelten. Dass keiner der Angreifer Cheng-yi hervorgezerrt und durchsucht hatte, das schob er auf das Blut, mit dem er durchtränkt war, und die reichhaltige Verfügbarkeit an Beute ringsherum. Cheng rappelte sich unsicher auf und musterte sich von Kopf bis Fuß. Nichts von dem Blut schien sein eigenes zu sein, was schon als Wunder gelten musste, wenn er bedachte, dass er neben Lao geritten war, als das Maschinengewehr loslegte – und von Lao war nicht mehr viel übrig, was man hätte identifizieren können. Cheng tanzte ein wenig herum und schüttelte die Fäuste zum Himmel. Dann sah er sich um und wusste überhaupt nicht, was er tun sollte.
Das bisschen Drogen- und Waffenschmuggel durch den Himalaya, das seit Maos Revolution noch möglich gewesen war, konnte er nicht allein übernehmen. Und seit dieser Revolution konnte man auch kaum noch schnelles Geld in der Region Xiang machen – denn Parteibonzen schöpften längst den Rahm ab. Cheng wollte verdammt sein, wenn er sich wieder in Chinas aktuelle Gesellschaft eingliederte: Plackerei ohne Dank und graue und langweilige Kleidung boten ihm keinen Reiz. Nur ein Weg stand somit offen. Er würde Kurs auf die Küste nehmen, Richtung Kowloon und Hongkong, und dort sehen, wie es ihm erging. Keinen Augenblick lang empfand er Trauer, während er seine Kleider gegen das Beste auswechselte, was die Leichen zu bieten hatten, und während er diese Leichen nach Dingen durchstöberte, die die Soldaten übersehen hatten. Es war kein schlechter Haufen gewesen, aber keiner der anderen hatte Chengs Qualitäten wirklich gewürdigt, und Chengs Gefühlsspektrum enthielt ohnehin nur Entsetzen und Lust. Das Erstgenannte meldete sich auch gleich zurück, als er gerade losgehen wollte und das Monster kam.
Das riesige, grauenhafte Ding nährte sich an den Toten. Er sah, wie es sich über ein totes Pony beugte und es mit mahlendem Schluck verschlang. Die Menschenleichen boten ihm noch weniger Schwierigkeiten. Hinter einen Felsbrocken gekauert, schluchzte Cheng vor Grauen, während er dem makabren Schmaus zuhörte, und als die Geräusche aufhörten, unterdrückte er das Weinen und hielt die Luft an. Vielleicht war das Ding wieder weg? Vielleicht war es gar nicht da gewesen …
Cheng-yi blickte direkt in das Maul der Hölle, das sich über ihn breitete, und schrie. Das Maul wandte sich ab, und von der Rückseite des Monsters fiel eine Schuppe herunter und landete mit dumpfem Schlag neben dem Chinesen im Staub. Er verfolgte, wie sich die zuerst blattähnliche Schuppe zu einem Zylinder zusammenrollte, als stürbe sie rasch dahin. Lust war Chengs nächstes Gefühl, und er
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