Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
den Kopf, tauchten auf und verschwanden wieder, ehe er sie greifen und festhalten konnte. Für einen Moment wünschte er sich, alles, was zu dieser Nacht geführt hatte, wäre nie geschehen, sodass er nie in das Frankenreich hätte reisen müssen und längst Claudia hätte heiraten können. Dann aber kam ihm in den Sinn, dass alle diese Geschehnisse ja lediglich eine Folge der veränderten Ereignisse in ferner Vergangenheit waren. Dachte er seinen Wunsch konsequent zu Ende, das wurde ihm nun bewusst, so würde er damit die Existenz seiner ganzen Welt infrage stellen, folglich auch seine eigene und die Claudias. Dieser Gedanke verstörte ihn sehr, sodass er sich zwang, ihn schnell wieder zu vergessen. Aber dennoch blieb ein schaler Nachgeschmack.
Andreas spürte ein Brennen im Mund und zuckte zusammen. Erst jetzt merkte er, dass er sich die Unterlippe blutig gebissen hatte.
»Cannae«, sagte Wibodus mit Entschiedenheit, »das ist der Schlüssel.«
Vom Pferd aus beobachtete der General, wie seine Truppen in Stellung gingen. Von Zeit zu Zeit kam eine Ordonnanz herangeritten, erbat im Namen eines Kommandeurs Instruktionen oder meldete die Ausführung aller Befehle; doch ansonsten lief alles wie von selber ab, ohne dass größere korrigierende Eingriffe nötig gewesen wären. Die Franken hatten eindeutig von den Römern gelernt, ihr Heer glich einer perfekt konstruierten Maschine, deren Schwungrad man nur anzustoßen brauchte, um sie in Bewegung zu setzen. Kein Zahnrad klemmte und behinderte den glatten, fehlerfreien Lauf. Eiserne Disziplin und gnadenloser Drill hatten über die Jahrhunderte aus den wilden Horden germanischer Krieger eine Armee gemacht, die außerhalb der römischen Welt ihresgleichen nicht hatte.
»Verzeiht, General«, sagte Oberst Waldo, der neben Wibodus auf einem Apfelschimmel saß und auf einer Liste vermerkte, welche Einheiten schon die ihnen zugewiesenen Positionen eingenommen hatten, »ich verstehe nicht ganz, wie Ihr das meint.«
Der fränkische Feldherr runzelte die Stirn, aber die Andeutung von Unwillen verflüchtigte sich schnell wieder. Der reibungslose Ablauf aller Vorbereitungen war seiner Stimmung zuträglich.
»Ihr wart doch auf der Kriegsschule in Paris, Oberst«, sagte er vorwurfsvoll. »Hat man Euch dort denn nichts über die Punischen Kriege beigebracht?«
»Selbstverständlich, General. Doch ich sehe den Zusammenhang zwischen der Schlacht von Cannae und dem uns bevorstehenden Kampf nicht.«
Wibodus hob eine Augenbraue und verzog den Mund zu etwas, das man für ein Lächeln halten konnte. »Cannae, das ist die Nemesis der Römer, eine vernichtende Niederlage, die Rom an den Rand des Untergangs brachte und sich unauslöschlich eingebrannt hat. Erinnert Euch an den Ablauf: Hannibal verführte die Römer, sein Zentrum anzugreifen. Das taten sie auch, mit einem sehr schnellen, konzentrierten Vorstoß gingen sie gegen die Mitte der karthagischen Linien vor. Doch Hannibals Zentrum wich zurück, während die Flanken des karthagischen Heers vorzurücken begannen. Die Römer wurden in die Zange genommen, eingekesselt und aufgerieben. Nur durch Glück überlebte Rom die Vernichtung seines Feldheeres.«
»Das ist es, was ich in der Kriegsschule gelernt habe«, bestätigte Waldo. »Doch wie wird uns das von Nutzen sein?«
Wibodus fasste sich kurz an seine Narbe, die schon seit Stunden ärgerlich schmerzte. Dann erwiderte er: »Cannae ist der böse Geist der Legionen. Seit damals hat es kein römischer Feldherr je wieder gewagt, einen Angriff voll und ganz auf das Zentrum seiner Gegner zu konzentrieren. Sie bevorzugen ein gleichmäßiges Vorrücken auf breiter Front, mit sorgfältiger Flankendeckung. Die Angst, dass Cannae sich wiederholen könnte, sitzt tief in ihnen und hat sie phantasielos gemacht, berechenbar. Ich weiß, dass sie uns morgen um jeden Preis angreifen werden, denn sie wollen uns endlich verjagen.«
Oberst Waldo nahm die Meldung eines herangepreschten berittenen Adjutanten entgegen, machte eine Notiz auf seiner Liste und fragte dann verwirrt: »Das sehe ich ein, General. Doch wie wollt ihr Euch das alles zunutze machen?«
»Lernt beobachten, Oberst, beobachten und Schlüsse zu ziehen. Ich hatte gestern ausreichend Gelegenheit zu studieren, welche und wie viel Truppen uns gegenüberstehen. Zahlenmäßig mögen sie uns annähernd ebenbürtig sein, doch ihr Heer ist völlig anders zusammengesetzt. Ihre ganze Kavallerie besteht aus wenigen leichten Reitern, der Rest
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