Die Zeitreisen des Zacharias Jones (Flucht aus dem Mittelalter) (German Edition)
Stocks das gesamte Alphabet aufzuschreiben.
So gefesselt war Hanna von seinem Tun, dass sie kaum bemerkte, wie Meister Freisius zufrieden lächelte, langsam zu dem Gestell humpelte, das ihm als Lager diente und sich mit einem tiefen Seufzer darauf ausstreckte. Als es dämmerte, konnte sie bereits ohne langes Zögern alle Buchstaben benennen, die dieser unglaublich gelehrte Junge in die Erde ritzte.
Zacharias reckte sich und legte den Stock beiseite.
„Genug für heute. Morgen ist auch noch ein Tag. So schnell, wie du lernst, wirst du ohnehin nicht lange brauchen, um alles Notwendige zu können.“
Unwillig stand sie auf. Zu gern hätte sie noch weitergemacht. Die heilenden Kräfte zu beherrschen, Krankheiten zu bekämpfen und Schmerzen zu lindern, all das Wissen in sich aufzunehmen, das hierzu notwendig war, das war bisher ihre Aufgabe gewesen. Doch seit heute hatte sich eine neue Tür aufgetan und sie ahnte, dass es noch viele andere gab, die nur darauf warteten, von ihr geöffnet zu werden.
Doch Zacharias hatte recht. Es würde noch mehr Gelegenheiten geben. Der Wunsch zu lernen durfte sie nicht von ihren Pflichten abha lten. Und so schickte sie Arne zum Brunnen, um Wasser zu holen, legte ein neues Holzscheit auf das Feuer und begann mit den Vorbereitungen für das Abendessen.
Als ihre Mutter wenig später in die Hütte trat, sah Hanna ihr gleich an, dass sie einen schweren Tag hinter sich hatte. Bei der alten Ulla war sie gewesen, die im letzten Sommer ihren Mann verloren hatte und seitdem allein lebte. Die alte Ulla war fast blind und konnte nur noch wenige Schritte gehen, ohne nach Luft zu ringen. Dabei rasselte ihr Atem, und sie hatte starke Schmerzen in der Brust. Hanna war dabei gewesen, als die Mutter ihr befohlen hatte, tief ein- und auszuatmen, und dabei mit dem Holzrohr an ihrem Rücken gelauscht hatte.
„Es hört sich an, als hättest du Wasser in der Lunge.“
„Und was bedeutet das?“ hatte die alte Ulla gekrächzt und mit ihren gichtigen Händen vor Mutters Gesicht herumgewedelt. „Was soll ich deiner Meinung nach jetzt machen?“
„Nichts“, hatte Mutter geantwortet, „Du kannst nichts machen. Vertraue darauf, dass es wieder vergeht. Ich werde dir ein paar Kräuter geben, die deine Beschwerden lindern.“
„Glaubst du wirklich, dass sie wieder gesund wird?“, hatte Hanna gefragt, nachdem sie die Hütte der Alten verlassen hatten.
„Nein“, hatte Mutter gesagt. „Sie wird sterben. Sehr bald sogar. Ich kenne keine Medizin, die gegen ihr Gebrechen hilft. Aber warum sollte ich es ihr sagen und ihr den letzten Mut rauben? Es wird ihr den Abschied von dieser Welt nicht erleichtern, wenn sie es jetzt schon weiß.“
Hanna hatte still zugehört und einfach gewartet, dass Mutter weitersprach.
„Unter allen Geschöpfen auf der Erde ist nur dem Menschen die Erkenntnis zuteil, dass sein Leben irgendwann zu Ende geht und er sterben muss. Dieses Wissen ist eine schwere Last und es gibt nur den Trost, die Stunde des Todes nicht zu kennen. Und wer bin ich, dass ich jemandem diesen Trost nehmen könnte?“
Hanna hatte lange über Mutters Worte nachgedacht und beschlossen, es genauso zu halten, wenn sie selbst einmal eine Heilerin sein würde.
„Die alte Ulla hat ihren letzten Weg hinter sich gebracht“, sagte Mutter und legte ihren Umhang über die Bank. Ihre Stimme hörte sich erschöpft an. „Der Tod kam nicht als Freund. Ich konnte ihr die Schmerzen nicht nehmen. Glücklich der, dem ein leichterer Abschied von dieser Welt zuteilwird.“
Hanna reichte ihr einen Krug mit frischem Wasser. „Hier, Mutter, trink einen Schluck. Das wird dir gut tun. Das Essen ist auch gleich fertig.“
Während ihre Mutter einen tiefen Zug aus dem Krug nahm, stellte Hanna den Topf mit dem dampfenden Erbsbrei auf den Tisch, und Zacharias weckte Meister Freisius. Alle setzten sich, nahmen die hölzernen Löffel zur Hand und begannen zu essen.
Bald wich die anfängliche Stille einer angeregten Unterhaltung, und Herlinde lauschte mit ungläubiger Miene, als Hanna stolz von ihren ersten Unterrichtsstunden im Lesen und Schreiben berichtete.
Mehr überrascht als erschrocken fuhren alle zusammen, als plötzlich die Hüttentür aufflog und Hans schwer atmend über die Schwelle stolperte. Keuchend beugte er sich vornüber und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Sie kommen! So viele! Sie wollen hierher!“
Seine Lippen zitterten, und zwischen den zusammengepressten Zähnen waren seine Worte kaum
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