Die Zeitstraße
eine bequeme Zelle ein, die im Laufe des zweimonatigen Fluges mehrere Falle nervöser oder seelischer Störungen beherbergt hatte, und riet ihm, sich ein paar Stunden auszuruhen. Er versprach, Fauchet darüber zu informieren, daß sein Patient nach den Maßstäben der modernen Psychophysik als völlig gesund zu betrachten sei.
Ohl Pommeroy benützte die Ruhepause, um über sein Erlebnis nachzudenken. Im Laufe der vergangenen Jahrzehnte war der Disziplin der Theoretischen Physik ein neuer Sprößling entwachsen, ein neuer Wissenschaftszweig, der sich mit den Unterschieden zwischen der objektiven (in die Naturgesetze eingehenden) und der subjektiven (vom reflektierenden Bewußtsein empfundenen) Zeit befaßte. Die neue Fachrichtung, Chrononomie genannt, rang sich bald zu der Erkenntnis durch, daß die eine mit der anderen Zeit nichts zu tun habe und beschäftigte sich von da an ausschließlich mit der Durchleuchtung des Phänomens Zeit, wie es im Bewußtsein des Menschen auftritt.
Eine der brauchbarsten Hypothesen wurde von einem Chrononomen namens Norman Zeitler entwickelt. Zeitler postulierte, daß in ein übergeordnetes Kontinuum alle denkbaren Universalzustände oder Universen eingebettet seien. Die Gesamtzahl dieser Universen betrachtete er als ungeheuer groß, jedoch endlich. Er behauptete weiter, das menschliche Zeitempfinden – oder das Zeitempfinden überhaupt, denn auch Tieren und möglicherweise sogar Pflanzen mußte zugestanden werden, daß sie den Ablauf der Zeit in irgendeiner Weise empfanden – sei weiter nichts als eine Reaktion des Bewußtseins auf die Wanderung durch die Universalzustände. Dem ersten Bewußtsein oder Urbewußtsein, als dessen Besitzer ein fiktives allererstes Lebewesen fungierte, mußte der Kosmos wie ein teuflisches Durcheinander vorgekommen sein. Es bewegte sich wahllos durch die verschiedensten Universalzustände, bis es erkannte, daß es vorteilhaft sei, die Wanderung durch die Universen zu ordnen, sozusagen gezielt zu betreiben. Von da an bewegte es sich nur noch durch Folgen einander benachbarter – d.h. ähnlicher – Universalzustände und legte dieser Folge einen neuen Begriff unter: Zeit.
Dieser Konvention, die das Urbewußtsein mit sich selbst geschlossen hatte, folgten alle späteren Bewußtseine. Zeitler hielt es nicht für unmöglich, daß die Fähigkeit, die Wanderung durch die Universalzustände mit einem gewissen Zeitempfinden zu verknüpfen, in den Erbanlagen der mit Bewußtsein ausgestatteten Wesen verankert sei und sich so durch die Generationen fortpflanze. An dieser Stelle der These horchten übrigens die Psychiater und Neurologen auf. Denn hier ergab sich die Möglichkeit, eine gewisse Gruppe von Geistesstörungen zu erklären, die nicht mit Verletzungen oder Änderungen der Gehirnsubstanz Hand in Hand gingen und der Wissenschaft bislang ein Rätsel gewesen waren. Vielleicht, so folgerten sie gemäß der Zeitlerschen Theorie, fehlte diesen Wahnsinnigen, die Dinge sahen, die kein normaler Mensch sehen konnte, nur der Sinn für den konventionellen Ablauf der Zeit. Ihr Bewußtsein bewegte sich in grotesken Sprüngen und Sätzen quer durch die Menge der Universalzustände, wie weiland das Urbewußtsein, bevor es die Konvention schloß. In diesem Fall war die Ursache des Wahnsinns die Abwesenheit des Erbmerkmals »konventionelles Zeitempfinden«, und man machte sich, ohne allerdings bisher viel Erfolg erzielt zu haben, sofort an die Durchsuchung des Gen-Gewirrs innerhalb der Chromosomen, um womöglich den Punkt zu lokalisieren, an dem sich das Zeitempfinden verbarg.
Weitaus wichtiger als die Entwicklung war für Ohl Pommeroy jedoch eine andere These Zeitlers. Der Forscher vertrat nämlich die Ansicht, daß das menschliche Empfinden für den »normalen« oder konventionellen Zeitablauf unter bestimmten Umständen zeitweise gestört werden könne. Unter solchen Umständen stellte Zeitler sich hohe seelische Belastung, den sogenannten Hyperstreß, und gewisse Drogen vor. Unter Einfluß von Hyperstreß oder Drogen, behauptete Zeitler, könne das menschliche Bewußtsein sich veranlaßt fühlen, aus der Konvention über das Zeitempfinden auszubrechen und mit einem Sprung zu einem weit entfernten Universalzustand vorstoßen. Sobald es den Zielort erreicht hatte, kehrte es gewöhnlich wieder zum normalen Zeitempfinden zurück, d.h. es empfand als den normalen Ablauf der Zeit wiederum das Passieren benachbarter, also ähnlicher Universalzustände.
Soweit Zeitlers
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