Die Zelle: Rechter Terror in Deutschland (German Edition)
überschritten. (…) Wenn jetzt nicht gehandelt wird, stehen wir vor der Gefahr einer tiefgehenden Vertrauenskrise gegenüber unserem Staat, ich sage mit Bedacht: ja, eines Staatsnotstandes.» Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) fasst seine Ausführungen zusammen: «Der massenhafte Zustrom von Asylbewerbern hat (…) zu unhaltbaren Zuständen in den Gemeinden geführt. Wenn sich die SPD einer wirksamen Regelung des Asylrechts widersetzen sollte, werde er weitere Überlegungen anstellen.»
Neun Wochen nach den Ausschreitungen von Rostock, am 1. November 1992, wird das Asylbewerberheim von Dolgenbrodt, einem Dorf in Brandenburg, niedergebrannt – einen Tag bevor 86 Asylbewerber aus Afrika hier einziehen sollten. Der Anschlag auf das Heim ist kein spontaner Gewaltausbruch von alkoholisierten Skinheads. Laut Presseberichten wird später bekannt, dass der Brandanschlag eine Idee der Bürgerversammlung des Dorfes war. In der Versammlung wurde entschieden, dass man zwei rechten Jugendlichen 2500 DM dafür bezahlt, wenn sie das Heim abfackeln. Die Feuerbomben bauten die Jugendlichen gemeinsam mit dem Vater eines der Jungen.
In der Nacht zum 23. November 1992 werfen zwei Neonazis Molotowcocktails auf zwei von türkischen Familien bewohnte Häuser. Die Tat erregt als «Brandanschlag von Mölln» bundesweite Aufmerksamkeit. Die 14-jährige Ayse Yilmez und die zehnjährige Yeliz Arslan sterben in den Flammen. Auch ihre Großmutter Bahide Arslan verbrennt bei lebendigem Leibe. Der Bekenneranruf bei der Polizei endet mit den Worten: «Heil Hitler!» Ein Sprecher der Polizeidirektion Hannover äußert sich einige Tage nach dem Anschlag in der FAZ und beschwert sich über «eine große Hysterie im Lande». «Häufig würden betrunkene Jugendliche zu Skinhead-Banden ‹hochstilisiert›. Delikte verschiedenster Art würden zu Monsterzahlen addiert.»
Auf die Frage, warum Bundeskanzler Helmut Kohl nicht an der Trauerfeier für die Opfer von Mölln teilgenommen habe, antwortet der Sprecher der Bundesregierung am 27. November 1992 bei einer Pressekonferenz, «dass dies nicht möglich sei, da der Bundeskanzler wichtige Termine habe und die Bundesregierung nicht in einen Beileidstourismus verfallen wolle». In seiner gesamten Amtszeit wird Bundeskanzler Kohl nicht einmal Opfer rechtsextremistischer Gewalt besuchen, sie empfangen oder zu einer Trauerfeier gehen.
Allein in dem einen Jahr zwischen dem Anschlag in Hoyerswerda und Ende 1992 werden in Deutschland 28 Menschen von Neonazis ermordet.
Während die Gewalt gegen Ausländer in Deutschland eine historische Dimension annimmt, wird es für den jungen Uwe Böhnhardt in Jena eng. Mit 15 wird er im Mai 1993 zu einer Jugendstrafe verurteilt. Wegen mehrerer Diebstähle und eines Einbruchs muss er 16 Wochen in der Justizvollzugsanstalt Hohenleuben einsitzen. Aus Platzmangel kommt er in ein Erwachsenen-, nicht in ein Jugendgefängnis.
Immer wenn ihn seine Eltern besuchen kommen, rennt er nach den Treffen schnell wieder in seine Zelle, um Vater und Mutter noch aus dem Fenster hinterherwinken zu können. Im Gefängnis sieht er, wie Mithäftlinge andere mit einem Besen quälen. Er sieht sexuelle Übergriffe, Mitgefangene in seiner Zelle stechen ihm ein Ankertattoo am Bein – zum Schutz, wie sie sagen. Die Eltern wissen nicht, ob er nicht selber Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden ist. «Die Zeit in Hohenleuben war für ihn eine ganz schwere Zeit. Das hat ihn sehr stark belastet», sagt seine Mutter.
Nur ein paar Monate nach seiner Entlassung aus der JVA steht Böhnhardt im Dezember 1993 wieder vor Gericht. Das Amtsgericht Jena verurteilt ihn wegen Erpressung und Körperverletzung. Er hat Glück, ins Gefängnis muss er nicht.
Nach diesen Erfahrungen will «Böhni», wie ihn Freunde nennen, alles besser machen. Er beginnt ein Berufsvorbereitungsjahr und schließt danach sofort eine Ausbildung zum Hochfacharbeiter an.
Doch die ersten Erfolge in der Ausbildung, der nachgeholte Schulabschluss, die bestandene IHK-Prüfung, sind nur eine Seite im Leben von Uwe Böhnhardt. Nachmittags, nach der Lehre, hat er viel Zeit. In diesen Stunden sucht er weiter nach Anerkennung und Anschluss bei Gleichaltrigen, er braucht die Gemeinschaft. Seine Freizeit verbringt er bald wieder mit zwielichtigen Personen.
Genau in diesen Monaten ziehen die Neonazikader Ralf Wohlleben und André K. bereits durch die Neubaugebiete Winzerla und Lobeda, um neue Anhänger für die rechte Szene zu rekrutieren.
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