Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Knochen befestigt waren? In welche Richtung hatten sie eigentlich gezeigt?
Es war unmöglich, das Hirn so frei zu kriegen, dass er lernen konnte. Wenn Jake es versuchte, füllte es sich rasch mit anderem, noch schrecklicherem Zeug: wie er sich fühlte. Wie es zu Hause war. Dass ihm seine Eltern inzwischen wie Fremde vorkamen. Entehrung! Schmach! Einsamkeit! Das überwältigende Verlangen, für sein Verhalten alle anderen verantwortlich zu machen. Der irre Kick, den er bisweilen verspürte, wenn er das Gefühl hatte, er hätte es allmählich überstanden. Berühmt! Berüchtigt! Verrufen! Wollte er überhaupt so weitermachen? So ein Typ sein, ein Typ, der Dinge tat, wie er sie getan hatte?
Er wäre viel lieber bloß ein Junge, ein Junge, der an Dinosaurier dachte. Es war etwa sechs Uhr, als er zu der Uhr hochsah und feststellte, dass er nichts geschafft hatte. Am Montag fing die Prüfungswoche an. Na ja, vielleicht würde er einfach durchrasseln und von der Schule fliegen.
Er beschloss, sich seine Bücher zu schnappen und nach Hause zu gehen. Vielleicht würde er ein paar U-Bahn-Stationen später aussteigen und sich am Broadway einen Bagel holen. H&H hatte die besten Bagels, war rund um die Uhr geöffnet, und wenn man sich einen kaufte, war er oft noch warm. Jake konnte einen mit Zimt und Rosinen nehmen und einen mit Salz. Wenn sie tatsächlich warm waren, bräuchte er nicht mal Frischkäse drauf und konnte abwechselnd vom einen abbeißen und dann vom anderen, denn das mochte er, wie salzig und süß sich abwechselten. Er trat aus der Bibliothek in den hellen, kühlen Abend hinaus. Sonnenuntergang war wahrscheinlich erst so gegen acht. Er konnte Bagels essen und dann zum Riverside Park gehen, in den Hudson springen und ertrinken.
Sie saß draußen vor der Bibliothek: Audrey! Das Gebäude war umgeben von frisch gemähtem Gras, üppig und grün, ein dichter flauschiger Haufen. Überall auf dem Schulgelände verstreut standen wie blumige Tupfer rosafarbene Marmorbänke. Auf einer davon, mit dem Rücken zu ihm, saß Audrey. Einem plötzlichen Impuls folgend wollte er ins Gebäude zurückrennen und machte schon kehrt, doch als er vor dem gläsernen Bibliotheksbau stand, der glühte, als würden die Bücher darin lichterloh brennen, war es plötzlich, als würde ihn die ganze intellektuelle Hitze wieder zurück in ihre Richtung katapultieren. Vor Audrey lag der mit Lackfarbe gestrichene Flugzeughangar, den sie Turnhalle nannten. Falls sie fragte, würde er einfach behaupten, er sei gerade auf dem Weg zum Basketballtraining.
Audrey rauchte eine Zigarette, obwohl sie sich auf dem Schulgelände befand. Sie saß ganz allein da. Auf einer Marmorbank, gestiftet von irgendeinem früheren Absolventen oder von den Eltern eines Schülers, der bei einem Verkehrsunfall gestorben war oder in einem Krieg. Die Bank war so hübsch und Audrey ebenfalls. So wie sie daraufhockte, sah sie von hinten aus wie ein chinesisches Schriftzeichen, mit den schmalen Linien ihres glatten schwarzen Haars, ganz in Schwarz gekleidet, den schwarzen Jeans und dem engen schwarzen T-Shirt, ganz feine, präzise Pinselstriche. Dazu diese goldenen Ballerinas und der graublaue Rauchschleier aus ihrer Zigarette. Die rot glühende Asche. Wie ein Aquarell.
»Hi, Audrey«, sagte Jake.
Sie drehte den Kopf und wandte sich nach rechts zu ihm um.
»Wie läuft’s, Jake?« Sie blinzelte ins Licht.
»Hast du was dagegen, wenn ich mich setze?«
»Ist ein freies Land«, erwiderte sie. Sie wandte sich um und schaute wieder in die gleiche Richtung wie vorher, bevor er gekommen war und sie gestört hatte.
Jake setzte sich neben sie. Er ließ seinen Rucksack neben sich fallen und starrte auf die Kuppen an seinen Turnschuhen. Sein Blick ging zu ihren Knien hinüber, ihren Schenkeln: So schmal sie waren, spreizten sie sich gegen den Marmor gepresst doch ein wenig. Jake verspürte den sehnlichen Wunsch, sein Gesicht in ihren Schoß zu vergraben.
Stattdessen hob er den Blick. Sie war auf eine knabenhafte Art so traumhaft schön, ihre Augen, ihre Nase, ihr wunderschöner Mund so vollkommen, so ebenmäßig. Sie war stark, muskulös, anmutig, geschmeidig. Da fiel ihm zum ersten Mal auf, dass der Haarschnitt asymmetrisch war. War das neu? Oder war es schon immer so gewesen? Auf der rechten Seite verlief es in einem längeren Schwung. Absichtlich. Audrey war absichtlich asymmetrisch. Sie war perfekt, aber etwas verschoben, was sie nur noch perfekter machte, fand Jake.
Sie sog
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