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Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Die zerbrochene Puppe: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Vogt , Christian Vogt
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anderem nutzen.“
    Innerlich sträubte ich mich gegen den Gedanken, Æmelies Träume in eines anderen Menschen Hände zu übergeben. Andererseits wusste ich, dass Kunst auch noch nach dem Tod des Künstlers fortbestehen konnte, unangetastet, statisch für die Ewigkeit. Forschung jedoch, Erfindungen, große Gedanken – wenn sie stehenblieben, wenn niemand anders sie aufnahm und weiter spann, verhallten sie im unfassbaren Gefüge der Zeit. Dann war es beinahe so, als wären sie nie gedacht worden.
    Ich blickte Tomke ernst an. „Wir können darüber reden.“ Zudem bot sich nicht nur Æmelies Gedanken eine Chance. Vielleicht war dies mein Kästchen mit Gold und Diamanten.
    „Ich möchte nicht im Ziegenstall schlafen.“
    Sie lachte und rollte das Papier erneut zusammen. „Abgemacht. Wir sprechen morgen darüber.“
    Die Pläne nahm sie wieder mit, sie ging durch den Raum mit den vier langen, mit Töpfen und Platten und Körben beladenen Tafeln zum Kopfende, wo sich in einer Feuerstelle die Reste eines Schafes drehten. Dort saß ihr Vater, und sie setzte sich zu seiner Rechten. Die aufmerksamen Augen der beiden Männer, denen sie am wichtigsten war, ruhten noch einige Augenblicke auf mir.
    Für mich jedoch war die Hauptsache, nicht im Ziegenstall übernachten zu müssen.

    Es war eigenartig, sich frei auf einer Insel wie Helgoland zu bewegen. Allein die steilen Begrenzungen der Insel bewirkten, dass ich mir wie ein Gefangener vorkam. Das endlose Meer, der mich umspannende Himmel und der unberührte, erstaunlich weiße Schnee jedoch ließen ein seltsam unwirkliches Gefühl von Freiheit in mir aufflammen, während ich die Insel erkundete. Man stellte mir keinen Aufpasser mehr zur Seite. In der Nacht hatte es einen heftigen, für mich recht beängstigenden Sturm gegeben, und nun waren einige Bewohner Helgolands mit dem Instandsetzen der Dächer beschäftigt. Die meisten anderen waren hinunter an die schmalen Strände gewandert und durchforsteten Sand, Geröll und Tang nach Bernstein, der einzigen Ressource, die auf Helgoland nachzuwachsen schien. An ihrer Nordseite bildete die Insel eine langgestreckte Bucht, deren Landbrücke jedoch vom Eis trügerisch in mehrere Teile zerbrochen war. Am anderen Ende erstreckte sich eine niedrige Halbinsel, die man als Hallem bezeichnet hatte, als ich danach gefragt hatte. Dort drüben konnte ich wenige geduckte Hütten erkennen, doch wie man über die trügerische Landbrücke hinübergelangte, konnte ich mir nicht erklären. Ich blinzelte durch die kleinen, peitschenden Schneekristalle hindurch, konnte jedoch niemanden auf der kleineren Halbinsel erkennen. Ich folgte dem Weg über die Insel.
    Sturmvögel zogen über mir dahin, schrille Jubelschreie ausstoßend, lagen sie auf den eisigen Windböen. Das Meer roch nach weiter, grüner Tiefe, die Luft nach einer Zeitlosigkeit, in der es weder Ruß noch Schmutz noch giftige Dämpfe gab. Ich schritt kräftig aus, um mich warm zu halten, und betrat einen der tief in die Schneedecke geschnittenen Wege. Einige Zeit lief ich ohne Orientierung darin herum – doch da es nur vorwärts oder rückwärts ging, konnte ich mich kaum verlaufen. Vom hohen Schnee wurde mein Sichtfeld derartig begrenzt, dass ich völlig überrascht war, als ich den äußersten Zipfel der nur spärlich bewohnten Insel erreicht hatte. Hier hatte der Wind den Schnee abgetragen, und ich trat heraus an eine Felskante, die mich schwindeln ließ. Ein schmaler, vom Wetter zerfressener Steg aus unterhöhltem Stein führte hinüber zu einer Felspinne, die aus dem Wasser aufragte wie ein roter Turm, der von weißen Einschlüssen durchschnitten wurde. Beeindruckt sah ich hinüber – hier war ich an der nordwestlichen Küste, an der die Klippen am steilsten waren und an denen sich die Wellen die Zähne ausbissen. Krachend stießen unten Eisschollen in- und übereinander wie wildes Meeresgetier, das sich nach mir, einem Brocken Fleisch, verzehrte. Ich schauderte und machte mich auf den Rückweg, ehe die Dunkelheit hereinbrechen oder ich vermisst werden konnte. Die Wanderung hielt meine Füße warm, und auch die Kälte meiner Hände und Nasenspitze machte mir wenig aus.
    Ob Orte wie dieser hier bestehen bleiben würden? Oder würden auch sie einst Opfer der Maschinen werden, die ihnen Kohle, Bauxit, Edelmetall, Bernstein und andere begehrte Güter entreißen würden? Europa brauchte Kohle und Gas beinahe dringender als Weizen und Wasser, wenn es bleiben wollte, was es stets gewesen

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