Die Zeugin: Thriller (German Edition)
hat mich verkauft.« Er warf den Schürhaken beiseite.
Rory war ihm so nah, dass ihr das frische Waschmittel sei nes Baumwollshirts in die Nase stieg. Sie betrachtete die Rundung seiner Wange.
Unverwandt starrte er ins Feuer.
Er war nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, und sie konnte praktisch spüren, wie sich seine Brust hob und senkte. Er wirkte wie ein Stein und zugleich unglaublich zerbrechlich.
Sie hob die Hand, um ihn zu berühren, doch mitten in der Bewegung erstarrte sie. Nach dem Unfall war sie einfach davongelaufen. Sobald sie ein Telefon halten konnte, hatte sie eine Bekannte aus Friedenskorpszeiten angerufen und sie um irgendwelche Hinweise auf Jobs in Übersee gebeten – nein, angebettelt. Sie hatte keine Rücksicht darauf genommen, wie sehr ihm das Ganze emotional zusetzen musste. »Es tut mir leid, Seth.«
Er blieb reglos, eine Hand auf Chibas Fell.
Hier vor ihr saß ihr Leben. Ihre Vergangenheit, ihr Weg durch die Welt, durch Missgeschicke und Entdeckungen, durch Augenblicke der Freude, des Lachens, der Wut.
Bitte sag mir, dass es dir gut geht. Die Worte blieben ihr im Hals stecken. Widersprüchliche Gefühle stiegen in ihr auf. »Was hast du in den letzten zwei Jahren getrieben? Wie sieht dein Leben aus?«
Er wirkte überrascht. »Ehemaliger verdeckter Ermittler aus Ransom River im freiwilligen Exil. Schreibtischjob. War ein langer Weg zurück. Und wie war’s bei dir so?«
Einsam.
Sicher, an Arbeit hatte es nicht gefehlt. Das endlose Studieren ganzer Paletten voller bürokratischer Akten in einer Lagerhalle. Arbeit, die Menschenleben retten konnte. Arbeit, die manchmal frustrierend sinnlos schien, wenn Familien wie die von Grace durchs Raster fielen.
Und es hatte Männer gegeben. Liebhaber. One-Night- Stands. Freunde mit gewissen Vorzügen. Meistens jung, meistens flüchtig. Meistens, weil sie sich taub fühlte. In ihrem Leben hatte sich ein gähnender Abgrund aufgetan, in den sie unweigerlich stürzen musste.
So hatte sie es sich damals erklärt. Es war leichter. Und auch in Ordnung. Nichts ging ihr mehr nahe, weil sie es nicht zuließ. Sie wollte einfach nur Gesellschaft, Lachen, jemanden, an den sie sich bis zum Sonnenaufgang klammern konnte. Jetzt erinnerte sie sich kaum noch an die Gesichter.
»Ich hatte das Gefühl, jeden Halt verloren zu haben«, antwortete sie.
Seine Schultern hingen schief. Das draufgängerische Lächeln, der Elan und die Unverwüstlichkeit gehörten der Vergangenheit an.
Die unsteten, hungrigen Flammen weckten eine starke Ungeduld in ihr. Der orangefarbene Schein ließ Seths Haar und Gesicht erstrahlen. In seinen Augen spiegelte sich das Feuer.
Und plötzlich beugte sie sich vor und küsste ihn. Ohne sich darum zu kümmern, ob es klug war; einfach in dem Wissen, dass sie andernfalls zu Asche zerfallen wäre.
Er fasste nach ihrem Gesicht, und seine schwieligen Hände lagen warm auf ihrer Haut. Mit geschlossenen Augen spürte sie das Kratzen seines Barts, schmeckte das Salz auf seinen Lippen. Als sie die Finger in sein Haar schlängelte, dachte sie, dass sie sich nichts sonst wünschte: seinen Mund auf ihrem, seine Haut an ihrer, seine streichelnde Hand an der Wange. Sie sagte ihm nicht, wie lang es her war, dass sie sich zu Hause gefühlt hatte und von ihrem eigenen Verlangen überrascht worden war. Wann sie zum letzten Mal darauf vertrauen konnte, dass ihre Sehnsucht erwidert wurde, dass sie gut aufgehoben war und nicht mit Verrat rechnen musste. Dass es zwei Jahre her war – dass es ihr seit dem letzten Zusammensein mit ihm nicht mehr so ergangen war.
Er zog sie an sich. Sein Rücken war angespannt und hart. Wieder küsste er sie, und dann fand sein Mund ihre Wange, ihren Hals, ihre Schulter. Sie ließ das Gesicht gegen sein Haar sinken. Er roch nach Holzfeuer und Old Spice.
Mit hämmerndem Herzen drückte sie ihn nach unten und kletterte auf ihn. Küsste ihn auf die Lippen.
Er wirkte reglos, wie in der Schwebe. »Rory …«
»Sag nichts.«
Er legte ihr die Hände auf die Schultern. »Bist du sicher?«
»Wenn ich sicher wäre, würde ich Lotto spielen. Oder als Präsidentin kandidieren. Einen Staatsstreich machen. Was hast du für ein Problem? Bist du Priester geworden? Raus damit.«
»Kein Problem. Kein Priester.«
Sie stürzte sich auf ihn.
Aneinander zerrend, rollten sie auf das Kaminfeuer zu. Rory ächzte. »Nicht vor Chiba.«
»Na, Gott sei Dank.«
Er zog sie hoch und steuerte aufs Schlafzimmer zu. Schloss die Tür und küsste
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