Die Zeugin: Thriller (German Edition)
beanspruchen.
Reglos lehnte sie am Fenster, preisgegeben, umstellt. In ihrem Inneren drängte eine schneidende Stimme: Wehr dich.
Um sie herum drängten sich so viele Menschen, doch sie sehnte sich nur nach einem, der vielleicht nicht einmal wusste, dass sie noch lebte. Sie zwang sich, den Blick auf die Beamten unten zu richten. In der Scheibe schimmerte ihre Halskette mit dem Türkisstein. Das Geschenk von Seth. Von allen Dingen, die sie bei ihrem Abschied verloren oder über Bord geworfen hatte, war dies das Einzige, was sie behalten hatte. Bekommen hatte sie es in einer heißen Nacht, in der sich die Welt plötzlich geöffnet und ihr gezeigt hatte, dass sie frei atmen, dass das Leben ein Rausch sein konnte. Und es brauchte nur einen Menschen, damit der Himmel leuchtete.
Nur einen. Seth Colder, den Spaßvogel, unberechenbar und ausgelassen, den Schulfreund, von dem sie gelernt hatte, dass die Liebe hell und scharf flammte wie ein Schweißbrenner. Doch das war lange her. Erloschen, weggefegt.
Sie unterdrückte den Impuls, die Halskette zu berühren. Was sollte dieser Ansturm von Trauer und Sehnsucht? Offen bar war sie kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Was willst du jetzt mit Seth? Lass das, Rory.
Doch als sie durchs Fenster starrte und dem geflüsterten Streit der Maskierten hinter ihr lauschte, konnte sie nur an eins denken: Seth wüsste einen Ausweg. Seth wüsste, wie man die Sache beendet.
Aus dem Korridor drang eine Megafonstimme. »Hier spricht die Polizei von Ransom River. Legen Sie Ihre Waffe weg. Öffnen Sie die Tür und kommen Sie mit erhobenen Händen heraus.«
Offenbar glaubten sie, dass es nur ein Täter war.
7
Im Gang setzte Lieutenant Gil Strandberg das Megafon ab. Seit dem Schuss der Pumpgun war kein Geräusch mehr aus Judge Wielands Gerichtssaal gedrungen. Keine Reaktion auf seine Aufforderung, sich zu ergeben.
Die Polizei und zwei Gerichtsdiener hatten zwanzig Meter vor der Tür zum Saal, außerhalb der Schusslinie, eine Absperrung errichtet. Im Parkhaus gegenüber gingen gerade die Scharfschützen in Stellung. Mit den Zielfernrohren ihrer Waffen konnten sie direkt in den Gerichtssaal blicken. Weitere Beamte erkundeten das Dach des Gebäudes. Sie hatten den Auftrag, Mikrofone zu installieren, um das Geschehen drinnen mitzuhören. In seinem Funkgerät liefen zehn Kanäle, und draußen schwärmten Beamte herum, um die Zivilisten von der Straße zu holen. Die zwei Wachleute von der Sicherheitskontrolle hatten keine Ahnung, was passiert war, nur dass anscheinend ein Typ mit einer gottverdammten Pumpgun mitten in einen Mordprozess geplatzt war.
Ein Uniformierter mit heulendem Funkgerät hetzte heran. »Die Countyverwaltung sucht gerade nach den Bauplänen vom Gericht. Wir kriegen sie in zehn Minuten.«
Das war kaum ein Anfang. Strandberg brauchte viel mehr. »Finden Sie raus, wie stark das Fensterglas ist. Falls wir dort reinmüssen.«
Ein Spezialkommando und ein Unterhändler für Geiselnahmen waren unterwegs.
Beide waren in Ransom River seit zwei Jahren nicht mehr zum Einsatz gekommen. Strandberg musste befürchten, dass sie eingerostet, übereifrig oder beides waren. Für ihn stand nur fest, dass der langweilige Alltag plötzlich in tödlichen Ernst umgeschlagen war.
»Was ist mit der Tür vom Richterzimmer in den Saal?«, fragte er.
»Festgeklemmt. Wahrscheinlich könnten wir sie aufbrechen.«
»Womit festgeklemmt?«
»Wissen wir nicht.«
Strandberg schüttelte den Kopf. »Niemand rührt diese Tür an, solange wir nicht mehr Informationen darüber haben, was drinnen passiert.«
»Was will der Typ eigentlich?«
»Keinen Schimmer.« Strandberg fragte sich, wie viel Zeit ihnen noch blieb.
I n der Taqueria Leticia am Wilshire Boulevard lief im Fernsehen über der Theke pausenlos ein Nachrichtenkanal. Ob Abend, Vormittag oder Nachmittag, er zeigte Gewalt und Korruption, Wirbelstürme, betrunkene Senatoren und nackte Prominente. Als die sprunghaften Bilder und atemlosen Kom mentare der normalen Berichterstattung zum ersten Mal unterbrochen wurden, machte sich niemand die Mühe aufzublicken. Sie waren hier in Los Angeles. Das Fernsehen von Los Angeles hätte sogar einen Bericht über das Jüngste Gericht unterbrochen, um Material über keifende Supermodels in einer Seitengasse zu bringen.
Die Stimme der Reporterin drang durch das Stimmengewirr im Restaurant. »Die Polizei macht keine Angaben über das Geschehen im Gerichtsgebäude von Ransom River, aber es heißt, dass
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