Die Zeugin: Thriller (German Edition)
sie mit sieben ihre Barbiepuppen an ihre Cousine verkaufen wollte. Keine Frist zu setzen war ein Kreisklassenfehler. Das Gleiche galt fürdie Nichterwähnung von Konsequenzen, falls die Polizei Nixons Forderungen nicht erfüllte.
Auch das hatte sie bei dem Barbiegeschäft gelernt. Ihre Cousine hatte sie in die Dornensträucher am Bach gestoßen und war mit der ganzen Sammlung weggerannt. Mit Kreisklassenfehlern kannte sich Rory aus.
Was lief hier eigentlich, verdammt?
Reagan stellte sich zu Nixon und legte ihm die Hand auf die Schulter. Flüsternd fragte er: »Was ist mit der Tussi?«
Nixon wischte die Hand weg und lief weiter auf und ab.
Mit der Tussi.
Vier Leuten war mit dem Gewehr auf die Schulter getippt worden. Drei Männern und ihr. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Maskierten jemand anders meinten, war erschreckend gering.
Im Parkhaus gegenüber erahnte sie den Fernsehwagen, der im Schatten parkte. Und Schatten, die vorher noch nicht da gewesen waren.
Unmerklich schob sie die Hände an der Scheibe hinauf und spreizte vorsichtig die Finger.
9
Mit dem Telefon in der Hand stand Seth an der Theke der Taqueria. Sein Instinkt sagte ihm, dass da im Gericht von Ransom River etwas Großes lief. Eine Sache, die kurz davor war, in was richtig Gemeines umzuschlagen.
Auf dem Wilshire Boulevard herrschte reger Verkehr. Die Herbstsonne fand durchs Fenster und erfasste ihn. Er scrollte durch seine Kontakte und zögerte bei der Nummer seines Vaters.
Der im Parkhaus verschanzte Kameramann zoomte das Gerichtsgebäude heran. Im Hintergrund Sirenen. Das Bild verschwamm, dann zeigte es gestochen scharf die an die Fenster gepressten Geiseln.
Langsam sank Seths Hand nach unten. Er vergaß den Anruf bei seinem Vater. Dad ging es gut. Er war in Rente und hatte bestimmt kein Interesse, in der Nähe des Gerichts herumzuschleichen.
Die Stimme der Reporterin war gedämpft. »Hier ist Jennifer Warner-Garcia vor der Strafkammer von Ransom River, wo sich gerade ein Geiseldrama anbahnt.«
Dort auf dem Bild, an eine Fensterscheibe gedrückt, stand Rory.
Seth hatte das Gefühl, dass seine Nervenenden Funken sprühten. Es war Rory, keine Frage. Kein Zweifel, unmöglich, dass er sich täuschte. Zwei Jahre waren vergangen, seit er sie gesehen, seit er sie zuletzt berührt hatte. Seit sie mit ihm Schluss gemacht hatte. Aus und vorbei. Zwei Jahre, die nicht bloß vergangen waren, sondern ihn gezeichnet hatten wie ein rostiges Messer.
Wann war sie zurückgekehrt? Niemand hatte ihm davon erzählt. Ihre Eltern sicher nicht – ihr Vater hätte sich ihm höchstens mit einem Baseballschläger genähert. Ihr Dad, der keinen Spatzen mit gebrochenem Flügel auf dem Waldboden sterben lassen würde, hielt Seth Colder für einen lebensmüden Irren.
Seth hatte geglaubt, dass sie nie wieder in Ransom River auftauchen würde. Dass sie für immer verschwunden war.
Aurora Faith, was machst du hier?
Die Reporterin Jennifer Warner-Garcia erwähnte Bewaffnete und Schüsse.
Rory sah wunderschön aus. Sie trug die Halskette mit dem Türkisstein, die er ihr geschenkt hatte. Bei dem Anblick ging es wie ein Riss durch ihn.
Die Geiseln an den Fenstern hatten die erhobenen Hände an die Scheiben gepresst. Sie ähnelten Figuren aus einem Navajo-Sandbild. Für Seth war unschwer zu erraten, was man ihnen gesagt hatte: Keine Bewegung, sonst werdet ihr erschossen.
Rory bewegte sich nicht, doch sie schien vor Energie zu vibrieren. Und er erkannte, dass sie nicht völlig reglos war. Sie drückte nur zwei Finger ihrer linken Hand ans Glas. Mit der rechten Hand mimte sie eine Pistole.
»Verdammt«, entfuhr es ihm.
Zwei Schusswaffen.
Dann ließ sie die Finger über das Glas wandern, wie um eine menschliche Gestalt anzudeuten. Von der linken Hand waren weiterhin nur zwei Finger zu sehen.
Zwei Bewaffnete.
Die Funken unter Seths Haut gefroren zu Eis.
Sie wollte der Polizei signalisieren, dass sich zwei bewaffnete Eindringlinge im Gerichtssaal befanden. Offenbar ging sie davon aus, dass die Polizei die Zahl der Angreifer nicht kannte. Und dass diese Information für die Rettung der Geiseln wichtig war.
Rory unterbrach ihre Gesten und warf einen verstohlenen Blick zur Seite, wie um sich zu überzeugen, dass niemand sie beobachtete.
»Pass bloß auf dich auf«, flüsterte Seth.
Dann legte sie einen einzelnen Finger der linken Hand ans Fenster. Langsam malte sie mit der rechten Buchstaben, wie ein Kind, das auf eine angelaufene Scheibe schreibt. T-O-T.
Nach
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