Die Zeugin: Thriller (German Edition)
einer Pause setzte sie erneut einen Finger der linken Hand an die Scheibe. Rechts buchstabierte sie V-E-RL-E-T-Z-T.
Ein Toter, ein Verletzter.
Die Reporterin äußerte sich nicht dazu. Vielleicht waren ihr Rorys Signale nicht aufgefallen. »Wir haben keinen Ton aus dem Gebäude, doch es liegt nahe, dass die Geiseln um ihr Leben fürchten. Wir können … neun Menschen an den Fens tern erkennen. Der Blick ins Innere des Gerichtssaals ist uns verstellt.«
»Natürlich.« Seth schüttelte unwillkürlich den Kopf. »Weil es die Angreifer so wollen.«
Er konzentrierte sich wieder auf sein Telefon und scrollte zu einer anderen Nummer. Höchste Zeit, was zu unter nehmen.
Doch er stockte erneut, gebannt von Rorys Anblick, deren Halskette in der Sonne glitzerte. Ihre Hände waren erstarrt. Nur ihre Lippen bewegten sich.
Die Reporterin fuhr fort. »Die Geiseln in diesem Gerichts saal sind wie ein Mikrokosmos der Stadt Ransom River. Frauen und Männer, Jung und Alt, Schwarze, Weiße, Latinos. Natürlich können wir nicht wissen, was in ihnen vorgeht, aber sie stehen bestimmt Todesängste aus. Und … eine Frau betet anscheinend.«
Die Kamera richtete sich auf Rory. Sie redete mit sich selbst, flüsterte. Die Lippenbewegungen waren deutlich zu erkennen. Seth trat näher zum Bildschirm.
»Offenbar spricht sie ein Gebet«, bemerkte die Reporterin. »Es ist herzzerreißend.«
Rory und beten?
Mit wachsender Ohnmacht beobachtete Seth sie. Und dann schien der letzte Rest von Wärme aus seinem Körper zu weichen. Er hing an Rorys Lippen.
Things I’ve never done …
Sie betete nicht. Nicht Rory Mackenzie, die nie darauf verfallen wäre, eine unnahbare und launische Macht um Gnade anzuflehen. Sie sang.
»Never much but we made the most …« Seth blieben die Worte im Hals stecken.
Er konnte es nicht glauben, doch er kannte den Text. Ihr Lieblingssong, traurig, schroff, schön. Eine kleine Indie-Ballade über Vergänglichkeit und den Hunger nach Liebe.
»Welcome Home«, flüsterte er. Willkommen zu Hause.
Zwei Jahre. Kein Abschied. Kein Winken über die Schulter, kein Wort von ihrem Plan, nach Übersee zu ziehen, keine Postkarten. Und doch murmelte sie jetzt Worte, die er aus hundert Nächten in ihren Armen kannte.
I’ve come home …
Das war nicht Rorys Song. Es war ihr gemeinsamer Song.
Er griff nach seinem Autoschlüssel.
10
Rorys Hände fühlten sich taub an. Seit einer Dreiviertelstunde drückte sie sie bereits an die Scheibe, und allmählich wich ihr das Blut aus den Armen. Inzwischen sang sie nicht mehr. Im Saal herrschte bedrohliche Stille. Niemand wollte die Maskierten reizen. Niemand bat darum, freigelassen zu werden. Sie saßen in der Falle und konnten nur darauf warten, was als Nächstes kam.
Rory hatte keine Ahnung, ob die Polizei ihre Handzeichen bemerkt hatte. Zwei Bewaffnete. Ein Toter. Ein Verletzter.
Hinter ihr stapfte Nixon auf und ab wie ein Büffel. Aus dem Augenwinkel konnte sie erkennen, dass er die Pumpgun in der Armbeuge hielt und auf sein Handy starrte. Er scrollte, tippte und wartete – vielleicht auf eine SMS .
Am Tisch der Gerichtsschreiberin klackerte die Computertastatur. Sie tippte die Geständnisse von Jared Smith und Lucy Elmendorf ein, die ihr Nixon diktiert hatte. Die Angeklagten hatten sich beschwert, doch ihr Anwalt erklärte ihnen, dass mit vorgehaltener Waffe erzwungene Schuldbekenntnisse vor dem Gesetz keinen Bestand hatten.
Rory lauschte auf den Atem von Judge Wieland. Er war beängstigend leise geworden. Vorsichtig riskierte sie es, den Kopf zu drehen.
Wieland lag auf dem Rücken und presste den durchweichten Stoff seiner Robe gegen die Schulterwunde. Er wirkte bleich und schwach vor Schmerz. Fünfundvierzig Minuten ohne medizinische Betreuung.
Rory spürte einen Kloß im Hals. Sie machte den Mund auf, um Nixon anzusprechen.
Er bemerkte sie und ruckte mit dem Kopf. »Augen zum Fenster.«
»Hier Sergeant Nguyen. Alles in Ordnung da drinnen?«
»Wo bleibt mein Gold?«, brüllte Nixon in Richtung Tür.
»Wir können darüber reden, aber vielleicht besser am Telefon, damit wir nicht schreien müssen. Können Sie den Apparat am Richterpult benutzen?«
»Nein. Erzählen Sie mir lieber, dass das Gold am Anrollen ist.«
»Wenn wir das arrangieren, brauchen wir auch was von Ihnen«, erwiderte Nguyen.
»Wann ist es hier?«
Reagan hastete zu Nixon hinüber. Zappelnd vor Aufregung, zischte er: »Mexiko? Das gefällt mir nicht.«
»Bloß eine Notlösung.«
»Aber
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