Die Zeugin: Thriller (German Edition)
hinausgeklettert war. Ohne zu schauen, ohne an die Scherben zu denken. So war er damals: unbesonnen. Sich rückhaltlos und tollkühn in irgendwas zu stürzen, war typisch für ihn. Nur deswegen war er überhaupt einem Polizeinotruf gefolgt, obwohl Rory mit im Auto saß. Er hatte sein ganzes Leben zu einem Notruf gemacht.
Seit diesem Abend hatte sie nicht mehr mit ihm gesprochen, seit den Minuten nach dem Unfall, in denen er versucht hatte, sie zu retten und zu trösten. Danach war noch Schlimmeres passiert, wie sie von Petra gehört hatte, die jedoch nichts Genaues wusste. Fast ums Leben gekommen. So hatte sich Petra ausgedrückt. Ende seiner Karriere bei der Polizei von Ransom River.
Wo warst du? Die Frage blieb ihr im Hals stecken. Sie wollte sie nicht stellen. Immerhin hatte sie die Flucht aus der Stadt ergriffen, ohne sich zu verabschieden. Immerhin war sie inzwischen über ihn hinweggekommen.
Sie nahm ein großes Glas, füllte es mit Wasser und schüt tete es in Chibas Schüssel. Geräuschvoll machte sich der Hund darüber her.
»Wo bist du gelaufen?«
»Am Fluss.«
Ein wehmütiges Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Fluss. Die alten Zeiten. Damals, bevor … Schnell verschwand das Lächeln, als wäre es von einem Strudel erfasst worden. An den Ort knüpften sich auch dunkle Erinnerungen.
»Wie geht es dir, Aurora?«
Sie stellte das Glas auf die Arbeitsplatte. Wie viel Mut verlangte es von ihm, so eine Frage zu stellen? »Ich bin pleite. Wurde gerade gefeuert. Die Hilfsorganisation, für die ich gearbeitet habe, wird nicht mehr finanziert. Ich habe Stahlschrauben im rechten Bein, aber letzte Woche bin ich fünf Kilometer in neunzehn Minuten gelaufen. Gestern habe ich mit angesehen, wie ein rechter Spinner ohne Zielwasser Judge Wieland angeschossen hat. Gleich darauf wurde der Mann mit einer Pumpgun abgeknallt. Einem der Bewaffneten wurde dreißig Zentimeter vor meinen Augen eine Kugel durch den Kopf gejagt. Die Cops meinen, dass ich mit dem Typen Walzer getanzt habe und zu seiner Fangruppe gehöre. Und kurz bevor du aufgetaucht bist, wollten mir Grigor Mirkovics Schläger das Geständnis abpressen, dass ich mich aus Liebe zur Polizei habe kaufen lassen.« Sie lächelte wild. »Ansonsten geht es mir gut.«
Sein Gesicht wurde ernst. »Grigor Mirkovics Leute?«
»Für fleischfressende Würmer sahen sie gar nicht mal schlecht aus mit Anzug und Krawatte.«
Er schwieg.
Sie hatte sich in Fahrt geredet, ihr Puls ging schneller. »Ich habe das Juraexamen verpasst, weil mich das Krankenhaus nicht rechtzeitig entlassen hat.«
»Verstehe.«
»Das hat mich die Stelle bei der Kanzlei in San Francisco gekostet.«
»Wirklich schade.«
»Das Jobangebot war mit der Bedingung verknüpft, dass ich meine Anwaltszulassung in der Tasche habe. Sie konnten nicht darauf warten, dass ich das Examen im nächsten Winter ablege.«
Er nickte. Wollte er damit zum Ausdruck bringen, dass er das schon wusste? Oder drängte er sie fortzufahren – wie ein Mann, der ausgepeitscht wurde und um den nächsten Hieb flehte?
»Das hat mich einfach umgehauen.« Den Rest konnte sie ihm nicht erzählen. Es saß so tief in ihrer Brust und hatte lange Zeit so sehr gebrannt, dass es sie alle Kraft gekostet hatte zu warten, bis sich das Narbengewebe um die Wunde geschlossen hatte. Ihr Herzschlag hatte sich für immer verändert.
Leise sagte er: »Es tut mir leid.«
Doch damit war es nicht getan, das wusste er. Er flehte nicht, setzte nichts hinzu. Er wartete nur resigniert auf ihre Reaktion.
Nach einer Weile wurde ihr Atem ruhiger. »Und wo warst du?«
Er zögerte, als könnte er nicht glauben, dass sie ihn ungeschoren davonkommen ließ. Dann schaute er sie fragend an. »Was hast du gehört?«
»Dass du die Polizei verlassen hast und weggezogen bist.«
»Das ist alles?«
»Und dass du verletzt wurdest. Im Dienst.«
Sein fragender Ausdruck blieb. Genau wie die Neigung seiner Schultern und etwas Angestrengtes in seiner Haltung, vielleicht ein Schmerz. Sein Blick driftete zur Küche. Möglicherweise hatte er Lust auf Kaffee. Doch sie wollte nicht, dass er sich zu Hause fühlte. Wollte ihm nicht zeigen, wie unglaublich sie es fand, dass er plötzlich zum Greifen nah vor ihr stand.
»Ich hab dich vorhin mit Detective Xavier gesehen«, sagte er. »Hast du sonst noch mit jemandem von der Polizei geredet?«
»Warum willst du das wissen?«
»Es ist wichtig, Rory. Bitte.«
Bitte? Höfliches Fragen war Seth noch nie leichtgefallen.
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