Die Zeugin: Thriller (German Edition)
aufs Sofa.
Rory nahm ihre Hand, die ganz kalt war. »Diese Typen im Gericht hatten es auf mich abgesehen, da bin ich mir sicher. Doch für sich allein ist das völlig sinnlos. Einen Sinn ergibt das Ganze erst, wenn der Raubüberfall dazukommt.«
Ihre Eltern blieben stumm.
»Deswegen will ich von euch jetzt die Wahrheit hören. Raus damit. Ist es möglich, dass Onkel Lee das Geld gestohlen hat?«
Unheilvoll hingen die Worte in der Luft.
»Damals in der Nacht mit dem Meteoritenschauer. Ich war neun. Der Lieferwagen und der Betrunkene auf der Straße – war das Lee?«
Ihr Dad stand auf und steuerte auf den verhüllten El Camino zu. Er stützte sich mit den Armen auf die Motorhaube und starrte mit leerem Blick hinaus auf die im Abendwind bebenden Eichen.
Nach langem Schweigen meldete sich Sam. »Erzähl es ihr.«
Mehrere schmerzliche Sekunden lang blieb Will völlig reglos. Dann ging er zur Werkbank und ließ sich auf einen Hocker sinken.
Rory wartete. »Dad.«
Schließlich sah er sie an. »Lee ist oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Aber er war nie gewalttätig oder gefährlich, soviel ich weiß. Er ist bloß immer auf diese Ideen reingefallen, wie man schnell reich wird, hat den falschen Leuten geglaubt …«
Sam setzte sich gerader auf. Kurz streifte Rory der Gedanke, dass ihrer Mom das alles neu war, dass sie nicht wusste, was Will enthüllen wollte. Doch dann erkannte Rory, dass das nicht sein konnte. Ihre Eltern lebten seit dreißig Jahren zusammen und standen sich einfach zu nahe.
Rory hatte das Gefühl, von einem schweren Gewicht niedergedrückt zu werden. Wie hatten ihre Eltern es herausgefunden? Nach Lees Verschwinden? War die verstörende Wahrheit allmählich zu ihnen vorgedrungen? Hatte Lee ihre Eltern eingeweiht, als er Rory Postkarten schrieb?
Will zögerte. Offenbar kostete es ihn große Kraft, Jahrzehnte der Qual, der Starre und der Scham zu überwinden. »Damals, in dieser Nacht. Es war schon spät. Dunkel.«
Rory war wie gelähmt.
»Lee war hier. Nach dem Raubüberfall. Er wollte Hilfe.« Voller Verzweiflung schaute er sie an. »Und ich hab ihm geholfen.«
39
»Auf einmal stand er draußen vor der Küche. Mitten in der Nacht. Hat wie wild ans Fenster geklopft. Ich hab ihm aufgemacht und sofort gesehen …« Der Schmerz im Gesicht ihres Vaters war so frisch, als wäre Lee vor wenigen Minuten in der Küche aufgetaucht und nicht vor zwanzig Jahren. »Er war verletzt und verzweifelt.«
»Verletzt?«
»Er wurde bei der Flucht angeschossen.«
Rory bekam kaum noch Luft. »Also hat er den Fluchtwagen gefahren?«
Wills Blick war voller Bedauern, als fiele es ihm unendlich schwer, ihre Illusionen zu zerstören. »Das weiß ich nicht. Ich war nicht eingeweiht.«
Sie wurde rot.
»Ich weiß bloß, dass alles den Bach runterging, als die Wachleute geschossen haben. Und als es dann vorbei war, war Lee der Einzige, der noch laufen konnte. Irgendwie hat er es bis zum Auto geschafft und ist weggefahren.«
»Und er ist hierhergekommen? Ins Haus – zu euch?«
Will nickte. Sam rutschte nervös auf dem Sofa herum.
»Was hat er gesagt? Wie habt ihr reagiert?«
Sam schaute auf. »Wir waren entsetzt.«
Rory spürte etwas wie einen zum Zerreißen gespannten Draht zwischen ihren Eltern.
Will faltete die Hände und sprach mit leiser, gemessener Stimme. Sie klang brüchig wie die eines Arztes, der einem Sterbenden seine Verletzungen aufzählt. »Lee hat behauptet, dass niemand verletzt werden sollte. Dass keine Gewaltanwendung geplant war.«
»Immerhin war es ein bewaffneter Raubüberfall«, wandte Rory ein.
»Er war davon überzeugt, dass es ein Verbrechen ohne Opfer sein wird.«
Sam hielt es nicht mehr auf dem Sofa. Sie kratzte sich an den Armen, dann sprang sie auf und fing an, nervös auf und ab zu laufen. »Der Trottel.«
Will schielte kurz zu ihr hinüber. »Es ist lächerlich, aber genau das hat er gesagt. Ein Verbrechen ohne Opfer. Es war altes Geld – nutzlose, verschlissene Scheine, die sowieso vernichtet werden sollten. Eigentlich nicht einmal ein Diebstahl, mehr wie das Durchsuchen einer Mülltonne. Und das ist nicht verboten.«
»Du nimmst mich auf den Arm.«
Sam schüttelte den Kopf. »Du hast keine Ahnung, wie überzeugend Lee sein konnte. Und wie unvernünftig. Er konnte die Leute zu allem überreden.«
Doch, ich habe eine Ahnung. Er hat mich dazu gebracht, an Abenteuer zu glauben.
Will griff seinen Faden wieder auf. »Er hat in einer Fantasiewelt gelebt. Und die ist
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