Die Zeugin
Sue hatte ihr angeboten, unauffällig nachzuforschen, ob Matt an dem Schlag auf den Kopf gestorben war, aber das wollte Kendall gar nicht wissen. Falls er daran gestorben war, dann war abzusehen, daà man sie irgendwann wegen Totschlags vor Gericht stellen würde. Falls er überlebt hatte, war sie immer noch verheiratet. Wie sie es auch drehte, sie blieb an ihn gekettet.
Kevin war drei Monate alt, als sie eines Nachmittags mit ihm auf einer Decke auf dem Rasen vor dem Haus der alten Witwe saÃ. Denver erblühte an diesem wunderbar warmen Frühlingstag. Der Himmel war blau, doch Kendall ahnte bereits die Ankunft des FBI-Dienstwagens, so wie man spürt, daà die Sonne gleich hinter einer Wolke verschwinden wird. Sie begann unvermittelt zu frösteln und begriff, daà ihre Schonzeit endgültig beendet war.
Der dunkelblaue Sedan hielt am Rinnstein. Zwei Männer stiegen aus und gingen langsam über den Bürgersteig auf sie zu. Der kleinere, untersetztere lächelte freundlich, der gröÃere nicht.
Der Kleine sprach sie an: »Mrs. Burnwood?«
Ihre Vermieterin erschien auf der Türschwelle. Sie kannte Kendall unter einem anderen Namen und sah sie erstaunt an, als Kendall nickte.
Der Mann zog einen ledernen Ausweis aus seiner Sakkotasche und klappte ihn auf, um ihr seine Marke zu zeigen. »Ich bin Agent Jim Pepperdyne. FBI.« Er nickte in Richtung des Mannes mit dem ernsten Mund und der verspiegelten Sonnenbrille. »Und das ist US-Marshal John McGrath.«
26. Kapitel
John McGrath erwachte mit einem vollständig wiederhergestellten Gedächtnis.
Er erwachte schlagartig und fühlte sich weder schläfrig noch orientierungslos. Mit eisiger Klarheit entsann er sich der kürzlichen und früheren Vergangenheit.
Auf einmal wuÃte er seinen Namen wieder, erinnerte sich an seine Kindheit in Raleigh, North Carolina, und an die Nummer auf dem Footballtrikot, das er in der High-School getragen hatte.
Er erinnerte sich an seinen Einsatz beim FBI und an die erschütternde Tragödie, wegen der er vor zwei Jahren den Job hingeworfen hatte. Desgleichen erinnerte er sich an seinen augenblicklichen Auftrag. Ihm fiel wieder ein, daà und warum er nach Denver geschickt worden war.
Der Unfall selbst blieb wahrscheinlich für immer aus seinem Gedächtnis gelöscht, aber er sah die regennasse LandstraÃe vor sich und den querliegenden Baum. Er wuÃte wieder, wie hilflos er sich im Angesicht der Katastrophe gefühlt und daà er schon mit dem Leben abgeschlossen hatte, als der Wagen über den StraÃenrand schoÃ. Dann war er im Krankenhaus wieder zu BewuÃtsein gelangt, mit Schmerzen am ganzen Leib. Ihn umgaben lauter Fremde; sogar er selbst war sich fremd gewesen.
Ganz deutlich erinnerte er sich plötzlich, wie Kendall ihm ins Gesicht gesehen und erklärt hatte: »Er ist mein Mann.« John legte den Arm über die Stirn und fluchte leise, weil nun auch alles andere in ihm auftauchte, was seither geschehen war.
Vor allem vergangene Nacht.
Seit vergangener Nacht steckte er bis zum Scheitel im Schlamassel.
Vergangene Nacht hatte er mit Kendall Burnwood geschlafen.
Das Kissen neben ihm war leer, aber noch nicht lange. Die Vertiefung, die Kendalls Kopf hinterlassen hatte, war noch zu sehen. Jeder Seufzer, jedes gemurmelte Wort, jedes Gefühl, jeder Geschmack war ihm noch im Gedächtnis. Stöhnend rieb er sich mit den Händen übers Gesicht.
Kein Wunder, daà seine Erinnerung aus ihren Fesseln gerissen worden war! Durch das, was er getan hatte, hatte er alles in den Grundfesten erschüttert, was den Mann John McGrath ausmachte.
Er schlug erneut die Hände vor die Augen, diesmal, um die Handballen auf die Augäpfel zu pressen. Wie sollte er das Pepperdyne gegenüber rechtfertigen? Oder sich selbst? Wenigstens war er keiner anderen Frau untreu geworden. Er und Lisa...
Lisa. Lisa Frank. So wie alles andere, hatte sein Gedächtnis auch sie bis zu diesem Augenblick getilgt. Jetzt stürzten die Erinnerungen über ihn herein. Und wie es sich so ergab, galt sein erster Gedanke nicht den schönen Zeiten, die sie miteinander verbracht hatten, sondern einem Streit.
John war von einer Reise nach Frankreich zurückgekehrt, von wo er einen entflohenen Straftäter in die Vereinigten Staaten zu transportieren hatte. Er war erschöpft, verschwitzt und litt unter dem Jetlag, am liebsten hätte er dreiÃig Stunden
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