Die Zeugin
Ich bin hundertprozentig sicher, daà niemand uns auf dem Kieker hat.«
Sie saÃen zu dritt auf der Bettkante, während Kendall ihre unglaubliche Geschichte erzählte. Die beiden anderen lauschten aufmerksam; nur hin und wieder fluchte Ricki Sue leise und ungläubig vor sich hin.
»Als ich Agent Braddock heute morgen zusammen mit Gibb sah, wurde mir klar, daà er mir entweder nicht geglaubt und den nächsten Verwandten angerufen hat, um eine Frau zu retten, die offenbar am Rande des Nervenzusammenbruchs steht. Oder daàâ und das wäre noch viel schrecklicher â in dem hiesigen Büro des FBI Mitglieder der Bruderschaft sitzen.«
»Herr im Himmel!« rief Ricki Sue aus. »Wie duâs auch wendest, du steckst bis zum Hals in der Tinte.«
»Genau. Ich kann also die Polizei erst wieder alarmieren, wenn ich weit weg bin. Vorläufig scheine ich das einzige Nichtmitglied zu sein, das von der Bruderschaft und ihren schändlichen Aktivitäten weiÃ. Sie könnten alle im Gefängnis landen, deshalb werden sie sich an meine Fersen heften. Ich muà wohl untertauchen, bis diese Dreckskerle verhaftet, angeklagt und ohne Kaution inhaftiert sind.«
Ihre GroÃmutter drückte ihr die Hand. Angst kerbte die Falten in ihrem Gesicht tiefer. »Bis dahin bist du in Lebensgefahr. Wie soll es weitergehen?«
»Ich weià nicht. Aber ich möchte, daà du mit mir kommst. Bitte, GroÃmutter«, flehte Kendall, als sie sah, daà die alte Dame widersprechen wollte. »Vielleicht muà ich mich monatelang verstecken. Ich will nicht meinetwegen, daà du mich begleitest, sondern deinetwegen. Sie könnten versuchen, mich durch dich zu erpressen. Du muÃt einfach...«
Ãber eine Stunde zog sie alle Register, die alte Dame zu überreden, doch GroÃmutter lieà sich nicht umstimmen. »Ohne mich bist du sicherer.«
Kendall bat Ricki Sue, Elvie Hancock zur Einsicht zu bewegen,
aber Ricki Sue nahm für die andere Seite Partei. »Du siehst die Sache falsch, Kleine, deine Oma hat recht. Färb dir die Haare, setz dir eine Brille auf, zieh dich anders an... du hast eine ganze Reihe von Möglichkeiten, dich zu verkleiden. Eine so alte Frau wie unsere Allerbeste hier kannst du schlechter tarnen.«
»AuÃerdem«, wandte ihre GroÃmutter ein, »weiÃt du genau, daà ich daheim sterben und neben deinem GroÃvater und deinen Eltern beerdigt werden will. Ich könnte die Vorstellung nicht ertragen, in der Fremde unter lauter Unbekannten begra ben zu sein.«
Kendall miÃfiel es zwar, daà ihre GroÃmutter über ihren Tod sprach, als stünde er unmittelbar bevor, aber sie hatte dem nichts entgegenzusetzen.
In jener Nacht schliefen sie und ihre GroÃmutter in einem Bett, während vom anderen Ricki Sues Schnarchen herüberdrang. Die ganzen Stunden hindurch hielt Kendall ihre GroÃmutter im Arm. Flüsternd erzählten sie sich von alten Zeiten. Kichernd durchlebten sie noch einmal die schönen Tage von einst. Sie sprachen voller Schmerz über den GroÃvater und Kendalls Eltern, an die sie sich nicht erinnern konnte. Sie kannte alle drei nur aus den Schilderungen ihrer GroÃmutter, die so oft und wirklichkeitsgetreu von ihnen erzählte, daà Kendall eine sehr lebhafte Vorstellung bekommen hatte.
»Wenn man bedenkt, wie schlecht es damals für uns aussah, haben wir uns ganz wacker geschlagen, findest du nicht?« fragte Elvie, während sie Kendalls Hand tätschelte.
»Viel besser als ganz wacker, GroÃmutter. Ich habe auÃergewöhnliches Glück gehabt, mit dir zusammen zu leben. Du hast mich mehr geliebt als die meisten Eltern ihre Kinder.«
»Ich wünschte, meine Liebe wäre ausreichend gewesen.«
»Das war sie!« ereiferte sich Kendall.
»Nein. Wie jedes Kind hast du dich nach der Liebe und der Anerkennung deiner Eltern gesehnt, und die konnte ich dir nicht bieten.« Sie drehte sich zu Kendall um und legte ihr die kühle, trockene, altersfleckige Hand auf die Wange.
»Du brauchst dich niemandem mehr zu beweisen, meine Kleine. Vor allem ihnen nicht. Du bist genau so, wie sie sich ihr Kind immer gewünscht haben â mehr als das! Sei nicht zu streng zu dir selbst. GenieÃe dein Leben.«
»Ich glaube nicht, daà ich dazu noch viel Gelegenheit haben werde.«
Ihre GroÃmutter lächelte begütigend wie eine Wahrsagerin, die
Weitere Kostenlose Bücher