Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
Vom Netzwerk:
damit gescheitert. Sie würde es in der nächsten Nacht noch einmal probieren müssen. Jede Stunde zählte; morgen war es vielleicht schon zu spät. Sie mußte noch heute verschwinden.
    Also konzentrierte sie sich darauf, so leise und schnell wie möglich vorwärtszukommen. Die Augen fest auf die beiden Schwestern gerichtet, schätzte sie den Abstand zur nächsten Ecke ab. Wie weit noch? Vier Schritte? Fünf?
    Kevin machte ein Bäuerchen.
    In Kendalls Ohren klang es wie ein Kanonenschlag. Sie erstarrte,
und das Herz klopfte ihr im Hals. Aber offenbar hatte außer ihr niemand etwas gehört. Die eine Krankenschwester las immer noch, die andere erwärmte sich offenbar mehr und mehr für ihr Thema:
    Â»Also hab’ ich zu ihm gesagt, wenn er sowieso dreimal in der Woche zum Bowling geht, was kümmert es ihn dann, wenn ich ein paar Nachtschichten schiebe? Da sagt er zu mir: ›Das ist was anderes.‹ Und ich sage: ›Da hast du verdammt recht. Mit deinem Bowling verdienst du keinen müden Cent.«‹
    Kendall wartete die weitere Schilderung dieses Ehezwistes nicht ab. Sobald sie die Ecke erreicht hatte, verschwand sie mit einem Seitenschritt im Quergang. Sie hatte es geschafft!
    Dicht an die Wand gepreßt, schloß sie die Augen, atmete tief durch und zählte langsam bis dreißig. Als sie sicher war, daß sie die Krankenschwestern nicht aufgeschreckt hatte, schlug sie die Augen auf.
    Dafür hatte sie ihn aufgeschreckt.

4. Kapitel
    Er preßte ihr die Hand auf den Mund.
    Nicht, daß das nötig gewesen wäre. Sie war zu perplex, um zu schreien. Außerdem hätte sie sowieso nicht geschrien. In der Nacht, als sie aus Prosper geflohen war, hatte sie viel schrecklichere Dinge erlebt, und damals hatte sie auch nicht geschrien.
    Trotzdem war sie fassungslos. Er schien sich aus der Wand geschält zu haben. Wie hatte er sich ihr so nähern können, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen?
    In seiner geschwächten Verfassung hätte er ihr eigentlich keine Angst machen sollen. Er lehnte schwer auf seinen beiden Krücken. Sein Teint war aschgrau; den Lippen fehlte praktisch jede Farbe. Ihm war anzusehen, daß er schrecklich litt.
    Aber sein Blick strahlte keine Spur von Schwäche aus. Seine Augen glühten sie aus ihren tiefen Höhlen an. Kendalls Herz begann zu rasen.
    Sie schüttelte langsam und energisch den Kopf, um ihm begreiflich zu machen, daß sie keinen Laut von sich geben würde. Langsam senkte er seine Hand.
    Die Krankenschwester am Telefon hatte nicht eine Sekunde in ihrem Klagelied innegehalten, die andere Schwester nicht einmal den Blick von ihrem Roman gehoben. Nichts deutete darauf hin, daß eine von beiden irgend etwas beunruhigt hätte.
    Er trug ein Paar grüne Operationshosen, das rechte Hosenbein hatte er aufgetrennt, damit sein Gips durchpaßte. Der Riß war so ausgefranst, daß man meinen konnte, er hätte den Stoff mit den Zähnen aufgerissen. Zuzutrauen wäre ihm das durchaus. Er sah abgezehrt aus, aber sein Kinn war entschlossen
vorgereckt. Alles nur Erdenkliche hätte er auf sich genommen, um aus dem Bett und in die Kleider zu gelangen.
    Kendall gab ihm ein Zeichen, ihr zu seinem Zimmer zu folgen. Er sah sie mißtrauisch an, hielt sie aber nicht auf, als sie auf Zehenspitzen über den Gang schlich. Wie der Arzt schon gesagt hatte, kam er ganz gut mit seinen Krücken zurecht. Die Gummispitzen machten nur ein minimales Geräusch, wenn er sie auf die Fliesen setzte.
    Sie gingen an seinem Zimmer vorbei und weiter auf den Ausgang zu, wo der Gang vor einer Metalltür endete. Über dem Absperriegel warnten rote Druckbuchstaben, daß dies nur ein Notausgang sei und mit dem Öffnen der Tür Alarm ausgelöst werde.
    Kendall legte die Hand auf den Riegel. Er hob die rechte Krücke so schnell und behende an, daß ein menschliches Auge der Bewegung kaum folgen konnte, und hielt sie ihr quer vor die Brust.
    Sie sah ihn an und formte lautlos die Worte: »Es ist okay. Vertrau mir.«
    Er gab ebenso lautlos zurück: »Nie im Leben.«
    Sie redete mit Gesten und übertriebener Mimik auf ihn ein und überzeugte ihn schließlich, daß nichts weiter passieren würde, wenn sie die Tür öffnete. Er sah sie scharf und warnend an und ließ schließlich die Krücke sinken.
    Sie schob den Riegel beiseite. Das Schloß öffnete sich mit einem metallischen Klicken,

Weitere Kostenlose Bücher