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Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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zwölfhundert.«
    Â»Tausend.« Kendall hatte zehn Hundertdollarscheine aus ihrer Tasche genommen und sie ihm hingehalten.
    Er spuckte einen zähen Schwall Kautabak in den Schlamm, kratzte sich nachdenklich an den Koteletten, sah auf das Geld und fällte schließlich eine Entscheidung. »Warten Sie hier. Bin gleich wieder da. Die Papiere sind im Haus.«
    Sie ließ ihn bis zum Waschsalon hinterherfahren, während sie den Wagen der Schwester in Richtung Krankenhaus steuerte. »Ich werde ihn fürs erste hier parken«, erklärte sie dem Mann, als er ihr die beiden Schlüssel überreichte. »Mein Mann und ich holen ihn später ab. Jetzt bringe ich Sie heim. Tut mir leid, daß ich Ihnen so viele Umstände mache.«
    Was für Umstände sie ihm auch gemacht hatte, sie wurden durch die tausend Dollar in seiner Tasche mehr als aufgewogen. Natürlich wollte er wissen, wie sie hieß, wo sie lebte, was ihr Mann arbeitete. Er hatte unentwegt Fragen gestellt, und Kendall hatte ihm höflich ins Gesicht gelogen.
    Â»Du bist die geborene Lügnerin«, hatte Ricki Sue ihr einst auseinandergesetzt. »Deshalb bist du auch eine so gute Anwältin.«

    Als Kendall daran dachte, mußte sie traurig lächeln. Sie hatten in Großmutters Küche aus einer Fertigmischung Kekse gebacken. Kendall sah so deutlich ihre Gesichter vor sich und hörte ihre Stimmen, als ständen die beiden Frauen in ihrem Krankenzimmer. »Vorsichtig, Ricki Sue. Mit solchen Bemerkungen spornst du sie nur an«, hatte Großmutter gewarnt. »Und zum Schwindeln braucht sie, weiß Gott, keinen Ansporn mehr.«
    Â»Ich schwindle nicht!« hatte Kendall protestiert.
    Â»Und das ist die allergrößte Schwindelei«, hatte Großmutter, einen teigverklebten Kochlöffel schwingend, widersprochen. »Wie oft hat man mich deinetwegen in die Schule bestellt, um irgendwelche wilden Geschichten aufzuklären, die du deinen Klassenkameradinnen erzählt hast! Sie hat sich ständig irgendwas ausgedacht«, erläuterte sie Ricki Sue über die Schulter.
    Â»Manchmal habe ich die Wahrheit ein bißchen ausgeschmückt, um sie interessanter zu gestalten.« Kendall schniefte hoheitsvoll. »Ich würde das nicht als Schwindeln bezeichnen.«
    Â»Ich auch nicht«, hatte Ricki Sue ungerührt festgestellt und sich eine Handvoll Schokoladenstreusel in den Mund geworfen. »Das bezeichnet man als Lügen.«
    Bei der Erinnerung an die beiden Frauen, die ihr so fehlten, bildete sich ein Kloß in Kendalls Kehle. Wenn sie weiter der Vergangenheit nachhing, würde der Kummer sie einkreisen. Und sie durfte auf keinen Fall noch mehr Zeit verlieren. Sie mußte handeln, ehe dieser Mann, der in ihr zu lesen schien wie in einem Buch, seine Erinnerung wiederfand.
    Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr – ein Uhr. Es war höchste Zeit.
    Sie schlich auf Zehenspitzen zur Tür, öffnete sie behutsam und spähte in den Korridor. Zwei Krankenschwestern teilten sich die Nachtschicht. Eine war in ein Buch versunken; die andere telefonierte gerade.

    Vorhin hatte sich Kendall schon einmal aus dem Haus geschlichen und ihre wenigen Habseligkeiten im Auto verstaut, so daß sie jetzt nur noch das Baby hinausbringen mußte.
    Sie trat wieder an die Wiege, schob die Hände unter den Babybauch und drehte Kevin behutsam auf den Rücken. Er verzog mißmutig das Mäulchen, wachte aber nicht auf, nicht mal, als sie ihn aufnahm und an ihre Brust drückte.
    Â»Braver Junge«, flüsterte sie. »Du weißt, daß deine Mami dich lieb hat, nicht wahr? Und daß ich alles – alles – tun würde, um dich zu beschützen.«
    Sie schlich sich aus dem Zimmer. Nach dem stundenlangen Warten im Dunkeln blendete sie das Licht auf dem Gang. Sie vergeudete ein paar kostbare Sekunden, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten, dann tastete sie sich leise an der Wand entlang.
    Wenn sie bis zum nächsten Quergang kam, ohne entdeckt zu werden, hatte sie es so gut wie geschafft. Aber auf den ersten zehn Metern befand sie sich im Blickfeld der Krankenschwestern. Sie hatte sich schon eine Erklärung zurechtgelegt, falls eine von beiden sie aus dem Augenwinkel bemerken sollte: Kevin habe Blähungen und könne nicht schlafen. Sie habe beschlossen, ihn ein bißchen spazieren zu tragen.
    Man würde ihr zweifellos glauben, aber ihr Plan wäre

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