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Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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Höhlen preßte.
    Er fühlte sich nicht wohl in seinem Körper. Seine Glieder waren verkrampft und steif, aber noch bevor er die reißenden Muskeln zu bewegen versuchte, wußte er schon, daß er sie nicht strecken konnte. Sein Hintern war vom langen unbewegten Sitzen taub, und er hatte Nackenschmerzen vom Schlafen mit abgeknicktem Kopf. Seine Kleider waren naß. Er hatte Hunger und mußte pinkeln.
    Vor allem aber hatte er wieder den Traum gehabt.
    Und weil er in seinem Alptraum gefangen war, konnte er nicht dem Babygeschrei entkommen, das noch deutlicher und lauter geklungen hatte als sonst und ihn aus dem Tiefschlaf rüttelte. Jetzt versuchte sein Bewußtsein erfolglos, ihn ganz aufwachen zu lassen. Sosehr er diesen immer wiederkehrenden Traum auch fürchtete – er war wenigstens besser, als wach zu sein.
    Warum?
    Dann erinnerte er sich.
    Er erinnerte sich, daß er sich an nichts erinnerte.
    Er hatte eine Amnesie, die von einer psychischen Schwäche ausgelöst worden sein mußte. Selbst dieser Schlauberger mit Stethoskop hatte einen psychischen Defekt geahnt.
    Die Vorstellung, daß er selbst für diesen unerträglichen Zustand verantwortlich war, frustrierte und ärgerte ihn. Bestimmt konnte er sich an alles erinnern, wenn er es nur wirklich versuchte.
    Er suchte die dunklen Winkel seines Geistes nach einem winzigen Lichtblick ab. Nach irgendwas. Egal, was. Einem Hinweis. Einer Andeutung. Irgendeiner Information über sich selbst, auch wenn es nur ein kleiner Funken wäre.

    Totale Finsternis. Nicht mal ein schwacher Widerschein. Das Leben, das er vor seinem Erwachen im Krankenhaus geführt hatte, war ihm verschlossen und lichtundurchlässig wie ein schwarzes Loch.
    Schließlich schlug er die Augen auf, um den bohrenden Fragen zu entkommen, auf die er keine Antworten wußte. Es war Tag, aber die Sonne nicht zu sehen. Regentropfen klatschten an die Windschutzscheibe und sammelten sich zu zackigen Rinnsalen, die über das Glas glitten.
    Sein Kopf lehnte am Seitenfenster. Das Glas fühlte sich angenehm kühl an. Er fürchtete sich vor jeder Bewegung, bewegte sich aber doch, indem er behutsam den Kopf hob. Die Kopfschmerzen waren nicht mehr ganz so schlimm wie gestern, aber immer noch rekordverdächtig.
    Â»Guten Morgen.«
    Er wandte sich ihrer Stimme zu.
    Was er sah, ließ ihn erstarren.

5. Kapitel
    Sie stillte das Baby.
    Der Sitz war fast in Liegeposition gekippt. Ihr Kopf lag auf der Kopfstütze. Sie hatte ihr Haar nicht gekämmt, seit sie gestern abend durch den Regen gelaufen war, so daß es zu einem verfilzten blonden Gestrüpp getrocknet war. Unter ihren Augen lagen dunkle Ringe. Sie wirkte aufgelöst, aber aus ihrem Gesicht sprach eine so uneingeschränkte Lebensbejahung, daß sie einfach schön anzusehen war.
    Sie wünschte ihm nochmals einen guten Morgen. Er murmelte eine Antwort, wobei er beklommen und erfolglos versuchte wegzuschauen.
    Es war nicht so, daß sie sich irgendwie zur Schau gestellt hätte. Sie hatte eine Babydecke über ihre Schulter gelegt, um ihre Brust abzudecken. Nirgendwo stach ihm nacktes Fleisch ins Auge. Das Baby war nur an den Bewegungen unter der Decke zu erahnen. Aber trotzdem wirkte sie wie ein Sinnbild mütterlichen Glücks.
    Warum brach ihm also der kalte Schweiß auf der Stirn aus? Was, zum Teufel, war eigentlich mit ihm los?
    Er fühlte sich elend. Sein Puls raste, und er hatte Platzangst, als hätte man ihm Watte in die Luftröhre gesteckt und als wäre jeder krampfhafte Atemzug vielleicht sein letzter.
    Das Bild stieß ihn ab und faszinierte ihn zugleich; er wollte so schnell und so weit wie möglich von ihr und dem Kind fort und konnte doch den Blick nicht abwenden. Der Frieden, der Mutter und Kind wie eine Aura umgab – und den er nie gespürt hatte, da war er todsicher –, besaß Magnetkraft. Die Seelenruhe, die sie
ausstrahlte, schien ihm unfaßlich und zog ihn auf unwiderstehliche Weise an.
    Doch vielleicht, überlegte er, angeekelt von sich selbst, bannte ihn ja bloß reine Lüsternheit. Was bedeutete, daß er ein perverser Kranker war, der sich an stillenden Müttern aufgeilte.
    Er kniff die Augen zu und rieb sich die Nasenwurzel, bis ihm die Tränen in die Augen schossen. Vielleicht hatte er den Unfall überhaupt nicht überlebt. Vielleicht war er gestorben, und das Krankenhaus war das Fegefeuer gewesen, eine

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