Die Zeugin
ihm ihr wollüstiger Mund aufgefallen. Er war voll und provokativ, ein Mund, für den man gern tausend Dollar die Nacht bezahlte.
Als er vorhin beobachtet hatte, wie sie sich die fettigen Brotkrümel von den Fingern leckte, war er zu dem Schluà gekommen, daà seine Diagnose stimmte. So krank war er nämlich nicht.
Sie sprach ganz eindeutig seine männlich konditionierten Reflexe an. Auf die Reize, die sie ausstrahlte, hatte er reagiert wie ein ganz normaler, gesunder Mann. Er würde seinen Kopf
darauf verwetten, daà seine Reaktion nicht auf intimere Kenntnisse oder gröÃere Vertrautheit zurückzuführen war.
Da ihm die Richtung nicht behagte, die seine Gedanken genommen hatten, schaltete er das Radio ein, in der Hoffnung, irgendwo Nachrichten herzubekommen. »Es ist kaputt«, lieà sie sich vernehmen.
»Wie praktisch für dich«, gab er zurück. »Wie weit ist es noch? Wo, zum Kuckuck, fahren wir überhaupt hin? Und untersteh dich, âºTennesseeâ¹ zu antworten.«
Das tat sie auch nicht. Sie sagte: »Wir fahren zu GroÃmutters Haus.«
»GroÃmutters Haus«, wiederholte er beiÃend.
»Ganz recht.«
»Deine GroÃmutter oder meine? Habe ich eine GroÃmutter?«
Er sah ein Stereotyp vor sich â graues Haar in einem festen Knoten, ein mildes Lächeln, Ermahnungen, die Jacke zuzuknöpfen, auch wenn es drauÃen sommerlich warm war, der Geruch nach Lavendelseife und Küchenkräutern. An dem Konzept gab es nichts zu bezweifeln, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, von so einem Menschen verhätschelt zu werden. Oder von überhaupt jemandem verhätschelt zu werden.
»Meine GroÃmutter«, antwortete sie.
»Hast du ihr Bescheid gesagt, daà wir kommen?«
»Sie wird nicht da sein.« Plötzlich wurde ihre Stimme rauh. »Sie ist vor vier Monaten gestorben. Nur ein paar Wochen vor Kevins Geburt.«
Das muÃte er erst verdauen. »Warst du bei ihr?«
»Nein. Ich war ... woanders. Und zu schwanger, um zu ihrer Beerdigung zu kommen.«
»Ihr beide standet euch nahe?«
»Sehr nahe. Wir hatten eine ganz auÃergewöhnliche Beziehung.
« Da ihn das offenbar interessierte, redete sie weiter. »Meine Eltern starben bei einem Unfall, als ich fünf Jahre alt war. GroÃmutter wurde mein Vormund. Mein GroÃvater lebte auch nicht mehr, deshalb waren wir nur zu zweit und uns besonders zugetan.«
»Habe ich sie gekannt? War ich schon mal in ihrem Haus?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wie weit ist es noch?«
Seufzend ruderte sie mit den Schultern. »Bitte hör auf, mich ständig danach zu fragen. Deswegen kommen wir auch nicht schneller an. Ich möchte vor Einbruch der Nacht dort sein, und die Zeit würde viel einfacher vergehen, wenn du schliefest. Du brauchst Ruhe.«
Er hatte drei Aspirin genommen, die seine Kopfschmerzen gedämpft und insgesamt seine Nerven beruhigt hatten, aber trotzdem fühlte er sich, als hätte ihn jemand mit einem Fleischklopfer bearbeitet. Deshalb lieà er den Kopf an die Lehne sinken, um seine Augen einen Moment auszuruhen.
Als er Stunden später aufwachte, wurde es bereits dunkel, und sie hatten ihr Ziel erreicht.
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Das Haus stand am Ende einer von Weinstöcken und GeiÃblattsträuchern gesäumten Auffahrt. Der Regen hatte nachgelassen, darum kurbelte Kendall das Seitenfenster herunter, als sie sich dem Eingang näherten, und atmete tief die würzigen Gerüche, den süÃen Duft des Sommers ein. Kindheitserinnerungen wurden wach. Vor Sehnsucht nach ihrer GroÃmutter wurde ihr die Brust eng.
Unter den Bäumen des anschlieÃenden Waldes war es schon dunkel. Glühwürmchen zwinkerten ihr aus dem schattigen Unterholz zu. Fast glaubte sie zu hören, wie GroÃmutters Stimme sie herbeirief, sich diese funkelnden Girlanden anzusehen.
Das Haus war ein Fachwerkbau mit Winkeldach, das eine breite Veranda überwölbte. Die Wände hätten einen frischen Anstrich vertragen können, und der Garten brauchte Pflege, aber im übrigen hatte sich seit ihrem letzten Besuch erstaunlich wenig verändert.
Abgesehen davon, daà ihre GroÃmutter nicht da war und auch nie wieder zurückkommen würde.
Kies knirschte unter den Reifen, als sie den Wagen zum Stehen brachte. Er wachte auf, gähnte, streckte sich und versuchte, sich im Zwielicht zu orientieren.
Kendall
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