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Die Zeugin

Die Zeugin

Titel: Die Zeugin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brown Sandra
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ihm ihr wollüstiger Mund aufgefallen. Er war voll und provokativ, ein Mund, für den man gern tausend Dollar die Nacht bezahlte.
    Als er vorhin beobachtet hatte, wie sie sich die fettigen Brotkrümel von den Fingern leckte, war er zu dem Schluß gekommen, daß seine Diagnose stimmte. So krank war er nämlich nicht.
    Sie sprach ganz eindeutig seine männlich konditionierten Reflexe an. Auf die Reize, die sie ausstrahlte, hatte er reagiert wie ein ganz normaler, gesunder Mann. Er würde seinen Kopf
darauf verwetten, daß seine Reaktion nicht auf intimere Kenntnisse oder größere Vertrautheit zurückzuführen war.
    Da ihm die Richtung nicht behagte, die seine Gedanken genommen hatten, schaltete er das Radio ein, in der Hoffnung, irgendwo Nachrichten herzubekommen. »Es ist kaputt«, ließ sie sich vernehmen.
    Â»Wie praktisch für dich«, gab er zurück. »Wie weit ist es noch? Wo, zum Kuckuck, fahren wir überhaupt hin? Und untersteh dich, ›Tennessee‹ zu antworten.«
    Das tat sie auch nicht. Sie sagte: »Wir fahren zu Großmutters Haus.«
    Â»Großmutters Haus«, wiederholte er beißend.
    Â»Ganz recht.«
    Â»Deine Großmutter oder meine? Habe ich eine Großmutter?«
    Er sah ein Stereotyp vor sich – graues Haar in einem festen Knoten, ein mildes Lächeln, Ermahnungen, die Jacke zuzuknöpfen, auch wenn es draußen sommerlich warm war, der Geruch nach Lavendelseife und Küchenkräutern. An dem Konzept gab es nichts zu bezweifeln, aber er konnte sich nicht vorstellen, wie es war, von so einem Menschen verhätschelt zu werden. Oder von überhaupt jemandem verhätschelt zu werden.
    Â»Meine Großmutter«, antwortete sie.
    Â»Hast du ihr Bescheid gesagt, daß wir kommen?«
    Â»Sie wird nicht da sein.« Plötzlich wurde ihre Stimme rauh. »Sie ist vor vier Monaten gestorben. Nur ein paar Wochen vor Kevins Geburt.«
    Das mußte er erst verdauen. »Warst du bei ihr?«
    Â»Nein. Ich war ... woanders. Und zu schwanger, um zu ihrer Beerdigung zu kommen.«
    Â»Ihr beide standet euch nahe?«
    Â»Sehr nahe. Wir hatten eine ganz außergewöhnliche Beziehung.
« Da ihn das offenbar interessierte, redete sie weiter. »Meine Eltern starben bei einem Unfall, als ich fünf Jahre alt war. Großmutter wurde mein Vormund. Mein Großvater lebte auch nicht mehr, deshalb waren wir nur zu zweit und uns besonders zugetan.«
    Â»Habe ich sie gekannt? War ich schon mal in ihrem Haus?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Â»Wie weit ist es noch?«
    Seufzend ruderte sie mit den Schultern. »Bitte hör auf, mich ständig danach zu fragen. Deswegen kommen wir auch nicht schneller an. Ich möchte vor Einbruch der Nacht dort sein, und die Zeit würde viel einfacher vergehen, wenn du schliefest. Du brauchst Ruhe.«
    Er hatte drei Aspirin genommen, die seine Kopfschmerzen gedämpft und insgesamt seine Nerven beruhigt hatten, aber trotzdem fühlte er sich, als hätte ihn jemand mit einem Fleischklopfer bearbeitet. Deshalb ließ er den Kopf an die Lehne sinken, um seine Augen einen Moment auszuruhen.
    Als er Stunden später aufwachte, wurde es bereits dunkel, und sie hatten ihr Ziel erreicht.
    Â 
    Das Haus stand am Ende einer von Weinstöcken und Geißblattsträuchern gesäumten Auffahrt. Der Regen hatte nachgelassen, darum kurbelte Kendall das Seitenfenster herunter, als sie sich dem Eingang näherten, und atmete tief die würzigen Gerüche, den süßen Duft des Sommers ein. Kindheitserinnerungen wurden wach. Vor Sehnsucht nach ihrer Großmutter wurde ihr die Brust eng.
    Unter den Bäumen des anschließenden Waldes war es schon dunkel. Glühwürmchen zwinkerten ihr aus dem schattigen Unterholz zu. Fast glaubte sie zu hören, wie Großmutters Stimme sie herbeirief, sich diese funkelnden Girlanden anzusehen.
    Das Haus war ein Fachwerkbau mit Winkeldach, das eine breite Veranda überwölbte. Die Wände hätten einen frischen Anstrich vertragen können, und der Garten brauchte Pflege, aber im übrigen hatte sich seit ihrem letzten Besuch erstaunlich wenig verändert.
    Abgesehen davon, daß ihre Großmutter nicht da war und auch nie wieder zurückkommen würde.
    Kies knirschte unter den Reifen, als sie den Wagen zum Stehen brachte. Er wachte auf, gähnte, streckte sich und versuchte, sich im Zwielicht zu orientieren.
    Kendall

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