Die Zeugin
niedergeschlagen. Die Gründe waren weniger beruflicher, eher persönlicher Natur. Vor über vierundzwanzig Stunden hatte sie erfahren, daà sie Matts Kind im Bauch trug und hatte es ihm immer noch nicht gesagt.
In der vergangenen Nacht hatte er ihr die Möglichkeit dazu verbaut, indem er sie mit Ansichten konfrontierte, die sie ihm nie zugetraut hätte. Sie konnte kaum fassen, daà ihr Mann derart veraltete Ansichten über die Ehe und die Rollen äuÃerte, die beide Partner darin übernehmen sollten.
Wenn er dabei ironisch oder wenigstens zornig geklungen hätte, hätte sie seine unverhohlen sexistischen Behauptungen nicht ernst zu nehmen brauchen. Er hatte sie jedoch so ruhig und überzeugt vorgebracht, daà ihr seine Worte den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen waren.
Natürlich äffte er damit Gibb nach. Matt wollte nicht wirklich
ein verhuschtes, unterwürfiges Mädchen zur Frau. Andernfalls hätte er sie nie geheiratet. Es irritierte sie jedoch, daà Gibb soviel Einfluà auf Matt hatte â genauso, wie sie die Entdeckung irritiert hatte, daà sich Gibbs Einfluà in diesem Ort auf Gebiete erstreckte, die ihn nicht das geringste angingen.
Bevor sie jenen euphorischen Zustand von gestern wieder erreichte, als sie von ihrer Schwangerschaft erfuhr, würden Matt und sie sich erst von neuem darüber verständigen müssen, wie ihre Partnerschaft aussehen sollte â mitsamt Gibb!
Es ärgerte sie, daà sie ihre Zeit, Energie und Emotionen in eine solche Diskussion stecken muÃte, wo sie doch all ihre Kräfte für Michael Lis und Lottie Lynams Verteidigung brauchten.
Kendall und Ankläger Gorn hatten sich erbittert über Lotties Kaution ereifert, doch zu Kendalls Ãberraschung hatte Richter Fargo in ihrem Sinne entschieden. Mrs. Lynam hatte die erforderliche Summe aufgebracht, indem sie eine Hypothek auf das Grundstück ihrer Familie aufnahm, das sie allein geerbt hatte, weil keines ihrer Geschwister es wollte.
Kendalls Verteidigungsstrategie stand auf wackeligen FüÃen. Sie hoffte, daà Mrs. Lynam in den mitgebrachten Unterlagen irgendeinen nützlichen Hinweis entdeckte. Vielleicht würde sie in den Beweisanträgen der Anklage auf etwas stoÃen, das bei den Geschworenen einen berechtigten Zweifel weckte und für eine Notwehrsituation spräche.
Kendall machte sich nichts vor. Die Verhandlung würde schwer werden und ihren vollen Einsatz erfordern. Allein bei dem Gedanken daran spürte sie ein Brennen zwischen ihren Schulterblättern. Ihre Halsmuskeln fühlten sich steinhart an.
Es war nicht gut, wenn ihre Mandantin sie so ängstlich und angespannt sah. Ohne lange nachzudenken hielt Kendall am Rand der schmalen LandstraÃe, von hier ans war es nur noch ein
kurzer Marsch. Die Bewegung würde ihr guttun â und dem Baby ebenfalls.
Sie stieg aus und ging zu Fuà weiter. In den Kronen der Bäume leuchtete das frische Grün sprieÃender Blätter, das den Frühling ankündigte. Genau wie der Embryo, der in ihrem Leib heranwuchs, verhieà das junge Laub einen neuen Anfang, der Kendall Kraft schöpfen lieÃ. Sie würde sich durchsetzen, beruflich wie privat. Sie war ein enormes Risiko eingegangen, als sie nach Prosper kam, jetzt durfte sie einfach nicht kneifen.
Frisch gestärkt, beschleunigte sie ihren Schritt. Um wie angewurzelt stehenzubleiben, als sie um die Ecke bog und den Wagen entdeckte, der neben Mrs. Lynams Auto vor dem kleinen, baufälligen Haus stand.
Was hatte Matt hier zu suchen?
Hatte er vielleicht bei ihr im Büro angerufen, erfahren, daà sie auf dem Weg zu Mrs. Lynam war, und beschlossen, sie hier zu treffen, um das Interview durchzuführen, über das sie gestern abend gesprochen hatten?
Nein, das war nicht möglich, denn er hatte ihr noch nicht die versprochene Fragenliste übergeben. Er würde sie doch bestimmt nicht hintergehen und Mrs. Lynam interviewen, bevor Kendall die Antworten mit ihr besprochen hatte?
Aber wenn sie nicht das unbestimmte Gefühl hatte, daà er eigentlich nicht hier sein sollte, wieso marschierte sie dann nicht schnurstracks zur Tür, sondern versteckte sich hinter einer Hecke?
Die Bedeutung dieser Frage war ihr noch nicht aufgegangen, als Matt und Lottie auftauchten. Gemeinsam traten sie aus der Haustür auf die Veranda. Er hatte sich das Sakko lässig über die Schulter gehängt und hielt es
Weitere Kostenlose Bücher