Die Zeugin
Meine Mutter ist gebürtige Amerikanerin. Die Familie meines Vaters wanderte aus, als er noch ein Baby war. Er hat nie Chinesisch gelernt und spricht besser Englisch als Mr. Johnson.«
Das bezweifelte Kendall nicht. Sie kannte Herman Johnson nicht näher, aber war ihm öfter im Country Club begegnet. Meist hatte er getrunken, erzählte lauthals chauvinistische Witze und machte sich selbst zum Clown.
Mr. Li kannte sie noch weniger, aber er und seine Frau verdienten Anerkennung dafür, einen so höflichen, wohlgeratenen Sohn groÃgezogen zu haben. Soweit sie aus zweiter Hand erfahren hatte, waren die beiden schwer arbeitende Menschen, und die Familie bedeutete ihnen alles.
Im Laufe der Zeit war Michael Lis Beziehung zu Kim Johnson immer enger geworden. »Es ist uns ziemlich ernst«, erklärte er feierlich. Er gestand Kendall, daà sie auch intim verkehrten.
»Aber nur mit Verhütungsmitteln«, betonte er sofort. »Ich habe immer aufgepaÃt. Und ich schwöre, daà sie jedesmal einverstanden war. Ich würde Kim niemals weh tun.« Ihm stiegen Tränen in die Augen. »Bestimmt nicht.«
»Ich glaube Ihnen«, versicherte ihm Kendall. »Und jetzt erzählen Sie mir genau, was gestern abend vorgefallen ist.«
Er und Kim hatten sich zum Lernen in der Bibliothek getroffen. Sie saÃen am selben Tisch, gaben sich aber alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, wenn der gestrenge Blick der Bibliothekarin sie traf.
Sie verlieÃen die Bücherei getrennt, aber wie verabredet erwartete Kim ihren Freund auf dem Parkplatz, wo er in ihren Wagen stieg. Er mied Kendalls Blick, als er ihr gestand, daà sie auf den Rücksitz kletterten, um sich zu lieben.
»Ich weiÃ, daà Ihnen das peinlich ist, Michael«, ermutigte sie ihn. »Aber wenn die Klage nicht zurückgezogen wird und Sie wegen Vergewaltigung angeklagt werden, müssen sie im Zeugenstand noch viel intimere Fragen beantworten. Der Ankläger wird keine Gnade kennen. Es ist von gröÃter Wichtigkeit, daà Sie von jetzt an völlig offen zu mir sind. Kann ich mich darauf verlassen?«
Er nickte, und sie begann, ihn zur Sache selbst zu befragen.
»Hat Kim sich ausgezogen?«
»Nur ihre Unterhose.«
»Sie trug also einen Rock?«
»Ja.«
»Bluse?«
»Ja.«
»BH?«
»Ja.«
»Und nichts davon hat sie ausgezogen?«
»Sie hat die Sachen aufgemacht, aber wir haben sie nicht ausgezogen.«
»Was ist mit Ihnen?«
»Ich habe nur meine Jeans geöffnet.«
»Haben Sie sich das Hemd ausgezogen?«
»Nein.«
»Es aufgeknöpft?«
»Ja.«
»Als Sie festgenommen wurden, hat Sie da jemand mit offenem Hemd gesehen?«
»Wahrscheinlich schon. Ist das wichtig?«
»Es ist unwahrscheinlich, daà sich ein Vergewaltiger die Zeit nehmen würde, sein Hemd aufzuknöpfen. Das sieht eher nach einem Liebhaber aus.«
Er entspannte sich; schenkte ihr sogar ein zaghaftes Lächeln.
»War der Akt schon abgeschlossen, als Mr. Johnson eintraf?«
»Ja.«
»Sie hatten ejakuliert?«
Er senkte den Blick »In das ... äh ... Kondom.«
»Der Laborbefund stammt also unbestreitbar von Ihnen?«
»Ja.« Er hob den Kopf. »Ich bestreite ja gar nicht, daà Kim und ich Sex gehabt haben, Mrs. Burnwood. Aber es war keine Vergewaltigung, wie Mr. Johnson behauptet. Die Bibliothekarin rief ihn an und erzählte ihm, daà ich Kim gefolgt sei, sie mache sich Sorgen um das Mädchen. Wenn man Schlitzaugen hat, ist man wahrscheinlich automatisch verdächtig«, fügte er grollend hinzu.
»Jedenfalls geriet Mr. Johnson in Panik, als Kim nicht heimkam. Er ging sie suchen und hatte eine Mordswut, als er uns entdeckte. Er zerrte mich aus dem Auto und packte mich an der Gurgel. Ich dachte, er bringt mich um.«
»Was ist mit Kim? Was tat sie?«
»Sie heulte wie ein SchloÃhund. Als die Polizei eintraf, holte ein Beamter sie aus dem Auto. Sie hatte sich immer noch nicht wieder angezogen.«
Er schlug die Hände vors Gesicht. »Sie muà sich in Grund und Boden geschämt haben. Die Leute aus der Bücherei waren gekommen, um nachzusehen, was sich drauÃen abspielte. Alle starrten sie an. Und ich konnte ihr nicht beistehen!«
Kendall legte ihren Stift beiseite und stützte die verschränkten Arme auf den Tisch. »Was wird Kim Ihrer Meinung nach der Polizei
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