Die Zuckerbäckerin
Blut, welches sich so schmerzhaft nach etwas sehnte, das sie nicht einmal in Worte fassen konnte? In manchen Augenblicken glaubte sie, es zu fühlen: beim Klang einer Balalaika in einer Spätsommernacht wie der heutigen. Beim Anblick der schwarzen Schwäne im Teich von Zarskoje Selo, früher, in ihren Jugendtagen. Auch während Wilhelms teilweise unbeholfener Versuche zu Zeiten des Wiener Kongresses, sie aus ihrer Gleichmut zu holen, sie mitzureiÃen im festlichen Taumel. Ihr fielen Verse eines Gedichtes ein, das sie vor langer Zeit gelesen hatte:
»Wohl reizet die Rose mit sanfter Gewalt;
doch bald ist verblichen die süÃe Gestalt:
drum ward sie zur Blume der Liebe geweiht;
bald schwindet ihr Zauber vom Hauche der Zeit.«
War es so, daà der Zauber ihrer Liebe schwand? Oder hatte es ihn so, wie das Gedicht ihn verstand, nie gegeben? MuÃte sie lernen, auf die süÃe Gestalt der Liebe zu verzichten? Oder war das alles Unsinn und sie eine hoffnungslose Schwärmerin, ewig auf der Suche nach Romantik? Vielleicht.
Urplötzlich regte sich in ihr ein Hauch von Unmut, reifer als kindlicher Trotz, aber ebenso nachdrücklich. Auch wenn Wilhelm es nicht wahr haben wollte oder konnte: In ihrer Brust schlug nicht nur das Herz eines Buchhalters, sondern auch das einer liebenden Frau. Was sie für Württemberg tat, tat sie gleichzeitig auch für ihn. Und was sie für ihn tat, war ebenso Württemberg zum Wohle. Nur wenn Herz undVerstand zusammenarbeiteten, sei der Mensch ein Ganzes, hatte ihr lieber Freund Ludwig Unland einmal gesagt, und: »Die Romantik ist hohe, ewige Poesie, die im Bilde darstellt, was Worte dürftig oder nimmer aussprechen; sie ist das Buch voll seltsamer Zauberbilder, die uns im Verkehr verhalten mit der dunklen Geisterwelt; sie ist der schimmernde Regenbogen, die Brücke der Götter â¦Â«
Ein Lächeln entspannte ihr Gesicht. Vielleicht war es das. Vielleicht sollte sie nicht immer nur versuchen, mit Worten das in ihre Ehe zurückzuholen, was sie anscheinend vermiÃte. Wieviel sinnvoller war es doch, nach dem romantischen Ausklang des Tages zu versuchen, ihre Liebe ebenso romantisch wiederzubeleben!
Auf einmal entwickelte sie eine der nächtlichen Stunde unangemessene Hast. Als erstes löste sie die tausend Nadeln, mit denen ihre schwere Haarpracht zu einer Krone festgesteckt war. Was für eine Erleichterung, als ihre Haare endlich schwarzglänzend wie Chinalack bis zu ihrer Hüfte hinunterhingen! Statt zwei dicke Zöpfe zu flechten, breitete sie ihre Haare wie einen seidenen Umhang um ihre Schultern aus. Dem Himmel sei Dank, daà sie Niçoise schon zur Nachtruhe geschickt hatte! Diese hätte sicherlich Einwände dagegen gehabt und davon geredet, wie schwierig das Haar am Morgen zu entwirren sein würde.
Bald war sie bereit. In ihr zartestes Nachtgewand gekleidet, einer feenhaften Jungfer gleich, eingehüllt in den rosigen Duft zarten Lavendelpuders, öffnete sie die Tür, welche ihre Gemächer mit Wilhelms verbanden. Inständig hoffte sie, daà ihr Auftritt Wilhelm wieder das vor Augen zu führen vermochte, was er im geschäftigen Alltagsleben so leicht übersah: daà er eine Frau aus Fleisch und Blut vor sich hatte, die gerne bereit war, alles mit ihm zu teilen.
32
D ie nächsten Wochen waren für Eleonore nicht einfach. Sie arbeitete Seite an Seite mit Johann und doch nicht Hand in Hand mit ihm. Wenn sie ihn aufsuchte, um die Menüfolgen abzusprechen und ihre Nachspeisen auf seine Hauptgänge abzustimmen, so war es, als träfen zwei Fremde aufeinander. Sie spürte seinen fragenden Blick und wich ihm immer wieder aus, indem sie sich mit fahrigen Bewegungen die Stirnfransen aus dem Gesicht wischte oder zu Boden blickte. Nach der Arbeit ging sie zwar weiterhin mit ihm im SchloÃpark spazieren, doch schob sie oft Müdigkeit vor, um bereits nach wenigen Schritten umkehren zu können. An manchen Abenden blieben sie wie gewohnt am groÃen Küchentisch sitzen, jeder über ein dickes Rezeptbuch gebeugt, doch wollte sich auch hier die alte Vertrautheit nicht mehr einstellen. Manche seiner Umarmungen lieà Eleonore über sich ergehen, doch meist entwand sie sich ihnen. Und immer achtete sie darauf, daà nicht mehr daraus wurde. Leidenschaftliche Küsse und seine Hände unter ihrem Leibchen hätte sie nicht ertragen. Aber wie um alles in der Welt sollte sie ihm das
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