Die Zusammenkunft
Verhalten gegenüber Männern: Wenn es ums Kennenlernen ging, dann war sie zu distanziert. Wenn ein Mann die Distanz mit dem, was er für Charme und Witz hielt, überbrücken wollte, wurde sie aggressiv. Und spätestens nach dem ersten Date zog sich Sirona schließlich immer wieder zurück.
Stella fand, dass ihr Anspruch zu hoch sei. Sirona wollte ihn aber nicht herunterschrauben, denn ohne Mann ging es ihr schließlich auch gut – warum sollte sie also Zugeständnisse machen? Selbst für Kim, die immer wieder betonte, dass sie sich einen neuen Mann an der Seite ihrer Mutter wünsche, würde sie keine Kompromisse eingehen.
Heute war es Sirona, die redete und Stella von der b evorstehenden Veränderung im Büro und von ihrem Ausraster gegenüber Rüdiger erzählte.
Stella zog, während sie schweigend zuhörte, die A ugenbrauen hoch. »Ich habe ja inzwischen begriffen, dass du einen ausgeprägten Beschützerinstinkt hast, aber ich muss dir wohl kaum sagen, dass deine Methoden etwas … fragwürdig sind, oder?«
»Ja, ja, ich weiß«, Sirona seufzte. Stella hatte vollkommen Recht. Wieso war sie nur körperlich so gewaltsam gegen Rüdiger vorgegangen, statt ihn einfach nur zur Rede zu stellen, wie sonst auch? So, wie es jede halbwegs gescheite und erfolgreiche Geschäftsfrau tun würde?
Sirona überlegte einen Moment, ob sie ihrer Freundin erzählen sollte, was ihr noch viel mehr Kopfzerbrechen bereitete. Nein, doch lieber nicht. Sie würde auch keine Antwort auf die Frage haben, woher die Kräfte geko mmen waren, um Rüdiger nicht nur an die Wand zu pinnen, sondern das auch noch in einer Höhe, die ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen entzogen hatte.
Es reichte, wenn der Gedanke daran sie nachts wach hielt.
D ie Augen klebten, sie schmerzten und Matthea merkte, dass sie geschwollen waren.
Er lauschte, kein Laut drang an seine Ohren.
Vorsichtig schälte er sich aus der Decke. Es musste spät sein, denn die Sonne stand hoch und durchflutete das Zimmer. Matthea kroch hervor und öffnete vorsichtig den Schrank. Der Raum war leer, das Bett ordentlich zurückgeschlagen, die Türen geschlossen.
Matthea blieb stehen, den Schrank im Rücken. Er hatte keinen Blick für die Sonne, die in das Zimmer drang, nicht für die Blumen in der Vase auf dem Tisch, die er seiner Mutter noch einen Tag zuvor gepflückt hatte. Er stand vor einem großen braunen Fleck, der sich auf dem einfach gehaltenen Fußboden abzeichnete. An den Rändern des Flecks gab es Wischspuren und die braune Farbe hatte sich über den einen oder anderen Fußabdruck verbreitet.
Matthea kniete nieder, dann legte er sich mit seinem ganzen Körper mitten auf diesen Fleck, auf dem Fliegen saßen. Er roch daran, aber er konnte sie nicht riechen. Er legte seine Wange auf den braunen Fleck, der einmal Teil der Liebe, des Lebens und der Kraft seiner Mutter gew esen war.
Matthea hätte nicht sagen können, wie lange er da g elegen hatte; irgendwann war er aufgestanden und hatte das Zimmer verlassen, das Zimmer mit dem Blut seiner Mutter, den Trümmern seiner jungen Hoffnungen und den Scherben seiner Zuversicht. Er ging hinaus in die Nacht, die inzwischen über Mexiko Stadt hereingebrochen war.
Von nun an zählte n ur das Überleben, und der Abstieg ging schnell. Er aß aus Mülltonnen und nährte sich von den Resten der Restaurants. Ab und zu schenkte ihm ein Tourist einen Pesos. Wenn er nicht aufpasste, dann wurde er geschlagen oder getreten. Es gelang ihm bald, drei Tage ohne Essen auszukommen, ohne Krämpfe zu verspüren.
Tagelang schlief er in einem Hof hinter einem Resta urant. Der Küchenjunge versorgte ihn mit Nahrung und gab ihm die Reste, die die Touristen auf den Tellern liegen ließen. Dann wurde er vom Küchenchef entdeckt und verjagt. Seitdem schlief er nie wieder zweimal am selben Platz, sondern abwechselnd in Autowracks oder unter Plastiktüten hinter Mülltonnen.
Wenn es besonders heiß war, dann sammelte er alte Zeitungen und verkroch sich, um zu lesen; das waren Augenblicke, in denen er sich nicht ganz so einsam fühlte, die ihn an etwas erinnerten, er wusste aber nicht mehr genau, woran.
Er hatte jedes Gefühl für Zeit verloren, wusste nicht mehr, wann sein Überlebenskampf begonnen hatte. Er wusste nur, dass er immer weitergehen, sich jede Nacht einen Platz suchen musste und keine Mülltonne auslassen durfte. Manchmal träumte er.
Seit Tagen hatte es geregnet, Matthea trug keinen tr ockenen Fetzen Stoff mehr auf dem Leib und die
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