Die zwei Monde: Roman (German Edition)
zur anderen, als würde es sich umsehen, dann senkte es seine knochige Schnauze auf die Tischoberfläche und strich mehrere Male darüber. Es schnüffelte.
Dann rannte es los und durchbrach den Aschekreis, mit Bewegungen, die mit denen einer springlebendigen Ratte völlig identisch waren. Es war, als würde man eine dreidimensionale, animierte Radiographie ansehen – ein faszinierendes und zugleich abstoßendes Schauspiel. Aus dem Augenwinkel registrierte ich ein leichtes Lächeln auf dem Gesicht des Conte.
»Sind Sie das, der das steuert?«, fragte ich mit einem dünnen Stimmchen. »Sind Sie derjenige, der das … träumt?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist die Ratte, die träumt. Sie träumt, lebendig zu sein.«
Ich blinzelte. »Die Toten träumen?«
»Die Toten tun nichts anderes als träumen. Sie sind für immer eingeschlafen.«
Das Rattenskelett erreichte den Tischrand, zögerte einen Moment, sprang dann auf den Teppich hinunter und lief auf die Dunkelheit unter einem Schrank zu.
»Es reicht jetzt«, befahl der Conte.
Eine Handbreit von seinem Ziel entfernt versteifte sich das Skelett, fiel auf die Seite und blieb unbeweglich liegen. Der Conte ging, um es aufzuheben und legte es wieder auf den Tisch.
Dann wandte er sich an mich. »Was verschafft mir die Ehre deines Besuchs?«
Ich löste nur mit Mühe die Augen von den kleinen, mit Zeichen bemalten Knochen. »Ich habe eine Nachricht erhalten …« Ich zog mein Handy heraus und las sie laut vor. »Ich kenne die Nummer nicht, aber sie kann nur von Ivan kommen.«
Der Conte nickte. »Das glaube ich auch.«
Ich sah ihn an und kaute auf der Lippe. »Was soll ich tun?«
»Antworte ihm. Triff eine Verabredung für morgen, und zwar hier bei mir.«
Mir fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. »Hier?«
»Genau.« Als er mein Erstaunen bemerkte, verzog er den Mund zu einem schmalen Lächeln. »Er hat dich in eine Falle gelockt, und zwar dorthin, wo die Luperci mächtig sind, in ein Heiligtum des Lichts. Diesmal werden wir ihm begegnen, wo wir mächtig sind. In meinem Heiligtum.«
Tausend Zweifel und ebenso viele Einwände gingen mir durch den Kopf, aber ich beschränkte mich auf den Hinweis: »Dann werden sie in Zukunft wissen, wo Sie wohnen …«
»Ein Preis, den ich zu zahlen bereit bin.«
Eine seltsame Vorahnung streifte mich, zu kurz, um deutlich zu sein. Vergeblich versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen.
»Gut«, lenkte ich ein. »Um wie viel Uhr?«
»Mitternacht«, erwiderte der Conte, ohne zu zögern. »Die Stunde der Wölfe.«
Ich schüttelte den Kopf. »Er wird nicht kommen. Er wird einen Hinterhalt vermuten. Eine unbekannte Adresse, mitten in der Nacht …«
Der Conte brachte mich mit einer Geste zum Schweigen. »Natürlich wird er kommen. Er will dich sehen. Aber wenn du unbedingt Sicherheit haben willst …«
Die Seitentür des Salons öffnete sich, und mit einem Rascheln erschien Regina, die Hände im Schoß verschränkt, die Augen im Zwielicht groß und glänzend.
Der Conte sah sie an und sagte laut, als würde er mit jemandem in einem anderen Zimmer sprechen: »Regina, ich brauche dich.«
Ich sah sie beide verwirrt an. »Warum rufen Sie sie denn? Sie ist doch schon hier.«
»Sie ist hier, weil ich sie gerufen habe.«
Ich öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn dann aber wieder. Natürlich, es war ja logisch: Regina hatte seine Stimme gehört, noch bevor er gesprochen hatte. Verrückt, aber logisch.
Regina trat zu uns an den Tisch, warf mir einen schüchternen Blick zu, und als sie sah, dass ich ihr zulächelte, lächelte auch sie, wenn auch nur ganz zart.
Der Conte bedeutete ihr, sich ihm zuzuwenden. »Morgen um Mitternacht, Regina, werden wir einen Gast haben: einen jungen Mann mit schwarzen Haaren. Wir sind im Begriff, ihn einzuladen. Wird er unsere Einladung annehmen?«
Ihre Augen gingen sofort zur Eingangstür, blieben einen Moment auf ihr ruhen und bewegten sich dann bis zur Mitte des Zimmers, als ob sie den Bewegungen einer unsichtbaren Gestalt folgten. Ich hielt den Atem an: Sah sie ihn wirklich? Sah sie ihn durch die Zeit hindurch, wie er hereinkam – nein, wie er hereinkommen würde –, in das Zimmer, in dem wir uns in diesem Moment befanden?
Regina wandte sich wieder an den Conte und nickte.
»Zufrieden?«, fragte er an mich gewandt.
Ich nickte und wollte etwas sagen, aber der Conte kam mir zuvor: »Danke, Regina. Jetzt kannst du dich zurückziehen.«
Sie beugte den Kopf, eine Geste, die halb
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