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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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sieht, wofür man keine Erklärung hat, ist es besser, sich auf und davon zu machen, statt der Sache auch noch hinterherzurennen.
    Je länger ich ihn beobachte, desto mehr wurde mir bewusst, dass nichts Normales an ihm war. Aus der Nähe betrachtet musste er mindestens zwei Meter zehn groß sein, auch wenn er mit gesenktem Kopf ging, als ob sogar das wenige Licht dieses Regentages ihm lästig wäre; er bewegte sich mit einer Anmut, mit einer Fluidität , die etwas Beunruhigendes hatte, so als würde er eher dahingleiten, statt auf der Erde zu gehen. Ich versuchte, einen Blick auf seine Füße zu erhaschen, aber sie waren unter der Kutte verborgen. Und doch hatte ich das Gefühl, dass sein Körper unter dem Stoff den Boden nicht berührte. Auch seine Hände blieben unter den langen Ärmeln versteckt. Er wirkte nicht wie eine reale Person, sondern eher wie ein Schatten in Menschengestalt.
    Und sogar die Hautfarbe war falsch. Er war mir zunächst wie ein besonders dunkelhäutiger Afrikaner vorgekommen, aber ich hatte mich getäuscht: Seine Haut war schwarz , und zwar von einem absoluten, undurchdringlichen, funkelnden Schwarz. Mehr wie die Farbe frisch polierter Lederstiefel als die von menschlicher Haut. Auch sein Gesicht, das ich nur zu drei Vierteln sehen konnte, trug keine afrikanischen Züge, ebenso wenig wie europäische: Es war der Inbegriff von Anonymität, ein vollständig glattes, leeres, ausdrucksloses Gesicht, mit relativ wenig ausgeprägten Wangenknochen, schwarzen Augen und unsichtbaren Augenbrauen.
    Ich folgte dem großen Unbekannten um ein paar Straßenecken, bis er in eine schmale, kurze Straße einbog, in der sich eine hohe Mauer an die nächste reihte, in regelmäßigen Abständen unterbrochen von schmiedeeisernen Eingangstoren. Hinter den Gittern lagen mit Bäumen und Büschen bewachsene Gärten, und noch weiter hinten waren die weiß getünchten Häuser der Besitzer zu erkennen.
    Die Straße war völlig verlassen und nicht einmal ein Auto war am Gehsteig geparkt, was in Mailand eine echte Seltenheit war. Die einzige Menschenseele weit und breit war ein Bettler, der an einer der Mauern gelehnt, unter der ausladenden Baumkrone einer Pinie saß, die ihn wenigstens teilweise vor dem Regen schützte. Völlig allein hockte er im Schneidersitz auf einer alten, durchnässten Decke in einer Straße, die offensichtlich keine mildtätigen Passanten zu bieten hatte.
    Der schwarze Mann steuerte direkt auf ihn zu. Um nicht gesehen zu werden, blieb ich stehen und versuchte, mich hinter der Straßenecke zu verbergen.
    Der Bettler hob den Kopf, sodass ich aus der Entfernung ein bleiches, unrasiertes Gesicht, helle Haare und Gesichtszüge erkennen konnten, die vielleicht zu einem Osteuropäer passen könnten. Die beiden Männer wechselten ein paar Worte, so als würden sie sich bereits kennen, aber ich war zu weit weg, um sie verstehen zu können. Dann steckte der schwarze Mann dem anderen etwas zu, und auch dieser wühlte in einer schäbigen Tasche herum und zog etwas daraus hervor, das wie ein Paket aussah: Er übergab es dem schwarzen Mann, der es mit einem Nicken des Kopfes entgegennahm und sich mit schnellen Schritten in die entgegengesetzte Richtung entfernte. Der Bettler blieb allein zurück, immer noch damit beschäftigt, in seiner Tasche zu wühlen.
    Ich blieb ein paar Sekunden unbeweglich stehen. Dann setzten sich meine Füße erneut in Bewegung, ohne dass mein Gehirn ihnen den Befehl dazu gegeben hätte, und ich fand mich auf der dem Bettler gegenüberliegenden Straßenseite wieder.
    Einfach nur, um einen Blick auf den Mann zu werfen, sagte ich mir, während ich einen Schritt vor den anderen setzte. Einen schnellen Blick im Vorübergehen. Ich wusste nicht mal mehr, wo ich mich in diesem Moment überhaupt befand, aber Gott sei Dank hatte ich immer einen Stadtplan in meiner Schultasche. Außerdem konnte die Metro nicht allzu weit entfernt sein.
    Als ich ungefähr auf der Höhe des Mannes war, wandte ich leicht den Kopf zur Seite, in der Hoffnung, dass die Bewegung wie zufällig wirkte. Auch er sah in meine Richtung, und so trafen sich unsere Blicke. Mir gefror das Blut in den Adern: Der Mann gegenüber hatte gelbe Augen, Augen ohne Iris oder Hornhaut, mit schwarzen, vertikalen Pupillen. Ein Mann mit Schlangenaugen.
    Ich hatte keine Zeit, zu reagieren, nicht einmal um richtig Angst zu haben, denn es dauerte nur einen absurden Moment lang, bis ich in seinem Gesicht die Emotion erkannte, die ich eigentlich

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