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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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empfinden sollte: das blanke Entsetzen.
    Wir starrten einander an, Veronica die Gymnasiastin und der Mann mit den Schlangenaugen.
    Dann durchbrandete eine glühende Woge meine Pupillen, wie damals, als das Mädchen mit den Blumen im Haar zum ersten Mal verschwunden war, nur noch intensiver. Ich rieb mir die Augen, völlig in Panik bei der Vorstellung, mich nur wenige Meter entfernt von dieser Kreatur zu befinden und nicht mal mehr auf mein Augenlicht zählen zu können. Aber auch diesmal verschwand das Brennen in kürzester Zeit.
    Und auch diesmal war, als ich meine tränenden Augen öffnete, niemand mehr da.

K apitel 6
    Donnerstag, 12. Februar
    Abnehmender Mond
    I ch habe keine Erinnerung an den Rest des Nachmittags. Ich weiß weder, wie lange ich brauchte, um die Metro zu finden, noch, wie ich überhaupt nach Hause gekommen bin.
    Aber ich erinnere mich sehr wohl, was in der Nacht darauf geschah.
    Ich schlief spät ein, sehr spät, trotz Müdigkeit und Schlafdefizit, und erst, als ich genug davon hatte, bei brennendem Licht in meinem Zimmer auf und ab zu gehen und meinen Blick alle zehn Sekunden zum Fenster wandern zu lassen. Und dann träumte ich.
    Ein wirrer Tumult aus Schreien und Metall, die Luft angefüllt mit Gerüchen, die ein Gefühl von Bedrängnis auf mich übertrugen. Es war nicht Nacht, sondern Tag, ein matter und windiger Tag unter einem steinfarbenen Himmel, und ich rannte mit keuchendem Atem in etwas herum, was mir – auf eine vage lächerliche Art – wie ein Maisfeld erschien.
    Die Gerüche, die der Wind mir zutrug, kannte ich: Menschenschweiß, geschliffenes Metall und der süße, stechende Geruch von Blut. Letzterer ließ mich schwindeln, und ich wusste, dass das Gefühl, das ich verspürte, Hunger war: ein unbekannter, fremdartiger, schmerzhafter Hunger, wie ein Krampf, der aus den Eingeweiden aufsteigt und sich in Wellen im ganzen Körper ausbreitet.
    Die Geräusche hinter mir entfernten sich immer mehr, ich registrierte sie wie eine Information von geringer Bedeutung: Wer auch immer mir auf der Spur war, stellte keine Bedrohung dar, höchstens eine Belästigung. Ich hatte beschlossen, meinen Verfolger im Lauf durch die Wälder abzuschütteln, statt ihn anzugreifen, weil es die einfachste Lösung war: Der Geruch seiner Haut sagte mir, dass er erwachsen war, und der von Metall, dass er bewaffnet war. Es wäre eine unnötige Anstrengung gewesen, für eine Beute, die nicht der Mühe wert war.
    Aber eine Beute musste sein, und zwar sofort, denn der Hunger war inzwischen unerträglich geworden.
    Ich nahm Witterung auf, ohne innezuhalten, und die Spur des Blutes führte mich im Zickzackkurs durch die Reihen der Maisstauden. Stimmen drangen an mein Ohr, zwei diesmal. Jung, fast kindlich, eine männliche und eine weibliche, und Wortfetzen, Gelächter, die rhythmischen, dumpfen Schläge von Hacken, die den Boden bearbeiteten.
    Der Blutgeruch kam aus dieser Richtung, kein Zweifel. Ich wusste – ein Teil von mir wusste –, dass Mädchen einmal im Monat nach Blut rochen.
    Ich holte tief Luft und setzte zum Endspurt an. Zwischen mir und dem Ende des Feldes waren es nur noch wenige Meter, wenige Schritte: Dann der offene Himmel, das leere Gelände, das Blut …
    Ich schreckte ruckartig aus dem Schlaf und brach in Tränen aus.
    Genug, genug …
    Nach einer Weile steckte ich den Kopf unters Kissen, weil ich Angst hatte, dass meine Eltern mich vielleicht hören könnten, auch wenn ihr Schlafzimmer auf der anderen Seite der Wohnung lag. Ich konnte lange nicht aufhören, zu schluchzen. Wahrscheinlich beruhigte ich mich erst, als ich wieder einschlief und ein gütiger Engel bis zum Morgengrauen verhinderte, dass mich weitere Träume heimsuchten.
    Am nächsten Morgen zog ich mich an, ohne zu merken, was ich überhaupt tat, und zum ersten Mal seit meinem dreizehnten Lebensjahr waren es genau die gleichen Klamotten wie am Tag zuvor. Nicht einmal in den Spiegel sah ich: Ich bürstete mir flüchtig die Haare, warf mir schnell meine Lederjacke über, nahm meinen Schal und flüchtete förmlich aus dem Haus, ohne Frühstück und mit der dahingeworfenen Entschuldigung, spät dran zu sein (was stimmte). Meine Mutter rief mir etwas hinterher, aber ich tat so, als hätte ich nichts gehört.
    In der Metro versuchte ich krampfhaft, jeden Blick aus dem Augenwinkel zu vermeiden, allerdings ohne großen Erfolg.
    Als ich noch ein Kind war, erzählte mir meine Mutter statt der üblichen Gute-Nacht-Märchen oft Zen-Geschichten

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