Die zwei Monde: Roman (German Edition)
oder taoistische Lebensweisheiten, und sie war ganz verrückt nach einer japanischen Fabel über einen Mann, der seinen Meister nach dem Geheimnis der Erleuchtung fragt. Der Meister verspricht, das Geheimnis zu enthüllen, wenn der Mann einen kleinen Test bestehen würde: Eine ganze Woche lang dürfe er nicht an Affen denken. Der Mann ging freudestrahlend nach Hause, fest davon überzeugt, dass er die einfachste Prüfung der Welt zu bestehen hatte. Aber schon bald merkte er, dass er anfing, überall Affen zu sehen, und erst recht, je mehr er sich bemühte, nicht an Affen zu denken. Schließlich ging er nach wenigen Tagen wieder zu dem Meister und flehte ihn auf Knien an, ihn von diesem Fluch zu befreien.
Der Sinn der Geschichte – von der ich später hörte, dass sie sehr berühmt war – war eher schlicht: Ich hatte ihn eigentlich sofort kapiert, auch als Kind schon, und es war mir ein Rätsel, was meine Mutter daran so Besonderes fand. Sie erzählte mir mindestens einmal pro Woche davon, wobei sie ganz begeistert die Laute der Affen und den verzweifelten Gesichtsausdruck des Mannes nachahmte. Zumindest habe ich mich jedes Mal halb kaputtgelacht.
An diesem Morgen, als ich zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder an die Geschichte dachte, brachte sie mich allerdings überhaupt nicht zum Lachen.
Als sich die Zugtüren an meinem Zielbahnhof öffneten, war ich so angespannt, dass ich wahrscheinlich schon laut aufgeschrien hätte, wenn mir jemand nur die Hand auf die Schulter gelegt hätte.
Ich trat mit gesenktem Kopf auf den Bahnsteig, zog den Rucksack auf meinen Schultern zurecht, und dann sah ich ihn: Er tauchte etwa zehn Meter von mir entfernt aus dem Tunnel auf, und zwar genau am Rand meines Gesichtsfelds. Und er stieg nicht etwa aus einem Waggon, wie alle anderen Leute um mich herum, sondern er kam geradewegs aus dem Dunkel des Stollens vor der Fahrerkabine, wo sich nur noch die Gleise und wahrscheinlich so eine Art Dienstpassage für Gleisarbeiter befanden. Er kletterte auf den Bahnsteig hinauf, rappelte sich hoch und machte sich eilig auf den Weg zur gegenüberliegenden Seite.
Er war dem schwarzen Mann, den ich am Tag zuvor gesehen hatte, so ähnlich, dass ich für ganze drei Sekunden sicher war, dass es ein und derselbe sein musste.
Mit geballten Fäusten und angehaltenem Atem stand ich wie gelähmt da und zwang mich, den Mann nicht anzustarren. Er kam direkt auf mich zu, durchquerte die Menschenmenge, die vor ihm zurückwich, offensichtlich ohne seine Gegenwart überhaupt zu registrieren; schließlich ging er an mir vorbei, ohne abzubremsen oder mich anzusehen, und setzte seinen Weg fort bis zum Ende des Bahnsteigs, wo er wieder hinunter auf die Gleise sprang und im Tunnel verschwand. Einen Augenblick später hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Mir kam der seltsame Gedanke, dass ich wohl dasselbe gemacht hätte, wenn ich bei einem Spaziergang auf den Gleisen eine Haltestelle zu durchqueren gehabt hätte, in der sich zufällig gerade ein Zug aufhielt.
Der Mann war keine zwei Meter entfernt an mir vorbeigegangen, und auch ohne ihn die ganze Zeit anzustarren, hatte ich ihn gut sehen können: Er war kleiner als der Mann vom Vortag, aber ansonsten völlig identisch, bis hin zu der schwarzen Kutte, die auf dem Boden schleifte.
Die Waggontüren hatten sich inzwischen geschlossen und der Zug war abgefahren; der Bahnsteig hatte sich geleert und nur mich zurückgelassen. Wie zur Salzsäule erstarrt stand ich da, den Rucksack lose von der Schulter hängend und die Fäuste so fest geballt, dass mir die Knöchel wehtaten.
Ich schüttelte mich und flog dann förmlich die Treppen hinauf ins Freie. Ich hatte wirklich keine Lust, mich mutterseelenallein vor dem aufgerissenen Maul des Tunnels aufzuhalten.
Es regnete nicht an jenem Tag, und zwischen den Wolken zeigten sich sogar ein paar Sonnenstrahlen; selbst die Lufttemperatur schien um ein oder zwei Grad wärmer als die Tage zuvor. Der Fußweg zur Schule half mir, mich wieder in den Griff zu kriegen. Vor dem Schultor atmete ich dreimal tief durch und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. Ruhig, Veronica, es ist alles gut. Du hast alles unter Kontrolle. Sobald Zeit ist, wirst du herausfinden, was hier los ist, und dann wird sich alles aufklären.
Aber als ich mich auf meinen Platz begab, warf mir Irene einen so alarmierten Blick zu, dass ich jede Hoffnung fahren ließ, einigermaßen normal auszusehen. Gott sei Dank tauchte einen Moment später schon der Lehrer
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