Die zwei Monde: Roman (German Edition)
sich ging; Irene, die bis gestern ein süßes, von tausend Krankheiten gequältes Püppchen gewesen war, spielte nun die Rolle der verantwortungsbewussten Freundin, die auch die schwierigsten Situationen meisterte; Angela und ihre Freundinnen, drei auffällige, aber im Grunde bedeutungslose Statistinnen, erstürmten plötzlich mit der Maske der großen Bösewichte die Bühne; und Alex, der junge Prinz mit dem verheißungsvollen Lächeln, wurde ein Fremder mit ausweichendem Blick.
Aber wer stand hinter all diesen Figuren? Wann waren es Masken und wann wahre Gesichter? Und wer war Veronica, eine Kämpferin oder eine Heulsuse?
Der restliche Vormittag und der anschließende Nachmittag glitten in einer Art Nebel vorbei, und schließlich kam fast unbemerkt der Zeitpunkt, an dem ich – es war ja Donnerstag – üblicherweise schwimmen ging. Auf dem Weg durch die verstopften Straßen fühlte ich mich wie im Fieber, und als ich in der Metro saß, bereute ich, diesmal nicht zu Hause geblieben zu sein. Aber da ich nun schon mal unterwegs war, setzte ich meinen Weg fort.
Der Kontakt mit dem Wasser tat mir gut, und nach vier oder fünf gekraulten Bahnen fühlte ich mich entschieden besser. Das Schwimmbad war zwar voller als beim letzten Mal, aber das störte mich kaum; seit ein paar Tagen war es mir gar nicht mehr so unangenehm, außerhalb der Wohnung nicht allein zu sein.
Ich stieg aus dem Wasser und kletterte die Leiter zum mittleren Sprungbrett hinauf, dicht neben einem fremden Jungen auf der benachbarten Leiter. Der Abstand war so gering, dass man auf dem Weg nach oben normalerweise ständig mit den Ellbogen aneinanderstieß. Aber der Junge neben mir berührte mich kein einziges Mal. Er hatte die Arme an den Körper gelegt, um nicht mehr Raum als nötig einzunehmen, während er mit einer schwerelosen Anmut hinaufstieg, die an eine Katze denken ließ.
Er war als Erster oben. Als ich die Plattform neben ihm erreicht hatte, musterte ich ihn neugierig. Er war nicht viel größer als ich, einen Meter siebzig vielleicht, aber er hatte einen ungewöhnlich schönen Körper: Schlank, muskulös, gut proportioniert, einen zwar sichtbaren, aber auch nicht übertriebenen Waschbrettbauch. Irgendwie dachte man bei seiner Figur weniger an ein Fitnesscenter, als an jemanden, der in freier Natur lebte und ständig in Bewegung war. Er erinnerte mich an bestimmte Manga-Figuren, Krieger aus alten Zeiten mussten solche Körper gehabt haben.
Ich war so damit beschäftigt, ihn zu bestaunen, dass ich erst nach einigen Sekunden die Augen zu seinem Gesicht hob und merkte, dass auch er mich ansah. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht.
Ich lief feuerrot an und wandte den Blick ab, aber es war natürlich zu spät, um so zu tun, als ob nichts geschehen wäre.
Auch sein Gesicht war irgendwie sonderbar: zweifellos hübsch, aber ebenso ungewöhnlich wie der Rest. Er hatte sehr markante Züge, fast zu markant: ein hageres Gesicht mit hohen Wangenknochen, durchzogen von tiefen Linien, die eher zu einem düsteren Ausdruck als zu einem Lächeln passten. Und doch wirkte dieses Lächeln ausgesprochen natürlich. Ein feiner, gebogener Strich, vielleicht eine Narbe, durchzog seine rechte Wange, gleich unter dem Auge und bis zur Schläfe hinüber. Auch seine Hautfarbe war auffällig, ein bernsteinfarbener Farbton, den ich keiner bestimmten Herkunft zuordnen konnte; die Augen hingegen waren braun, von einem sehr dunklen Braun, wenn nicht gar schwarz. Aus der Badekappe auf seinem Kopf war ihm eine lange, dunkle Haarsträhne entschlüpft, die sich wie eine seltsame Tätowierung um seinen Hals gelegt hatte.
Ich setzte überstürzt zu einem Sprung ins Wasser an, einfach weil es keinen anderen Weg gab, mich seinem Blick zu entziehen. Es war nicht gerade ein Bilderbuchsprung und ich hoffte, dass der Junge das nicht registriert hatte, ärgerte mich aber zugleich über einen solchen Gedanken.
Ich befand mich schon in einer gewissen Entfernung, als ich hörte, dass auch er ins Wasser sprang.
Als ich am Beckenrand zur Wende ansetzte, konnte ich einen kurzen Blick auf ihn erhaschen, denn er war nur wenige Meter entfernt. Auf halber Strecke der zweiten Bahn überholte er mich: Er schwamm genau so, wie er die Leiter hinaufgestiegen war: Ohne auch nur eine unnötige Bewegung zu machen, mit der Geschmeidigkeit eines Geschöpfs, das völlig in seinem Element ist.
Ich verspürte einen leichten Anflug von Ärger: Immerhin war ich mindestens vier Sekunden vor ihm
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