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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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Liebe.« Der Conte schwieg einen Moment, den Blick fest ins Leere gerichtet. »Sie hat viele Dinge gesehen, als sie bei den Unterirdischen war. Zu viele Dinge. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft. Sie sieht sie immer noch, und es nicht einfach für sie, sie voneinander zu unterscheiden. Aber sie kann nicht sagen, was sie weiß, sie kann nicht mit anderen teilen, was sie sieht: Wie viele Dinge weiß ein Baum, und doch spricht er nicht … Aber das liegt in der Natur jedes Paktes: Entscheidungen haben Konsequenzen.«
    Ich ließ seine Worte schweigend auf mich wirken, und plötzlich überkam mich eine unendliche Traurigkeit um dieses verliebte Mädchen, das jemand verführt, benutzt, jenseits alles Vorstellbaren in die Irre geführt und dann weggeworfen hatte.
    »Was bedeutet es, dass sie die Zeit nicht mehr kennt?«, murmelte ich.
    »Es hat genau die Bedeutung, die du zu kennen glaubst.«
    »Dass sie unsterblich ist?«
    »Ja.«
    Eine weitere Wahrheit, die es zu akzeptieren galt, und basta. Inzwischen hatte ich den Überblick verloren.
    »Wie alt ist sie?«
    Der Conte schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht genau. Sicherlich älter als du und ich. Seit ich ihr ein Zuhause gegeben habe, habe ich mich das oft gefragt: Die Kleider, die sie bei sich hatte und die sie noch immer unbedingt tragen will, lassen mich an die ländliche Lombardei denken, im Norden von Mailand wahrscheinlich, und was die Zeit betrifft, in der sie gelebt hat … so müssen wir sicherlich einige Jahrhunderte zurückgehen.«
    Ich sah ihm fest in die Augen. »Wenn Ihnen so daran gelegen war, mich zu treffen, warum sind Sie dann nicht selbst gekommen?«
    Er zuckte nicht mit der Wimper. »Weil Rotkäppchen dabei war, Blumen im Wald zu pflücken, als sie den Wolf traf.«
    Diesmal platzte ich fast vor Wut, was er mir an den Augen abgelesen haben musste, denn er erhob sich abrupt. Es war das erste Mal, dass ich ihn eine so brüske Bewegung machen sah.
    Er trat an eine Regalwand, wo neben den vielen Büchern auch einige Statuetten aus buntem Stein von vage ägyptischem Aussehen standen, und kehrte mit einem kleinen Bändchen zurück. Er reichte es mir, indem er sich in einer Geste zu mir herunterbeugte, die einer Verneigung sehr nahe kam.
    »Ich fürchte, ich habe deine Geduld sehr in Anspruch genommen, Veronica Meis. Ich bitte aufrichtig um Vergebung. Dies ist es eigentlich, was ich dir zu geben wünschte.«
    Ich nahm das Büchlein entgegen. Es war kaum größer als ein Heft, aber schmaler, mit einem weißen, modernen Buchdeckel und ohne Titel. Die Buchseiten aber erschienen alt, ein gelbliches, mit großen Buchstaben bedrucktes und zugleich vollkommen glattes Papier. Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass es sich um Fotografien auf Hochglanzpapier handelte.
    »Das ist ein Faksimile«, sagte der Conte. »Weißt du, was das bedeutet?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Die farbige Kopie eines historischen Buches. Das Original befindet sich hier in Mailand, in der Braidensischen Nationalbibliothek, und geht zurück auf das Jahr 1792.« Er fixierte mich mit seinen lebhaften grünen Augen. »Nimm es mit und lies es. Und komm wieder, wenn du den Wunsch dazu verspürst, und wir werden reden.«
    Ohne weitere Erklärungen begleitete er mich den dunklen Korridor entlang bis zum Aufzug.
    »Auf Wiedersehen, Veronica Meis«, verabschiedete er sich. »Dir zu begegnen, war mir eine besondere Ehre, eine jener seltenen Gelegenheiten, die sich an den Fingern einer einzigen Hand abzählen lassen, so lange ich auch gelebt haben mag.«
    Er blieb stehen und hielt mich in seinem Blick gefangen, bis die Aufzugtüren sich vor mir schlossen.
    Ich brauchte den ganzen Nachhauseweg, um mich von der Verwirrung zu erholen, und erst als ich vor meinem Haustor stand, wagte ich es, mein Handy herauszuziehen und einen Blick auf die Uhr zu werfen: drei Uhr vierzig.
    Ich drückte mir selbst die Daumen, während ich die Treppen hinaufstieg, und als ich den Schlüssel zur Wohnungstür ins Schloss steckte, hielt ich den Atem an. Absolute Stille. In der Küche, in die ich mich auf Zehenspitzen geschlichen hatte, empfing mich eine sehr vertraute Szenerie, die ich einen Augenblick lang liebte, wie ich sie noch nie geliebt hatte: mein kaltes Mittagessen auf dem Herd und ein Zettel unter Ganeshas Füßen, der mich wissen ließ, dass meine Mutter erst nach vier Uhr nach Hause kommen würde. Ich ließ mich am Tisch nieder, erleichtert und erschöpft.
    Bis zum Abend nahm ich das Buch des Conte

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