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Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Die zwei Monde: Roman (German Edition)

Titel: Die zwei Monde: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luca Tarenzi
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nicht mehr in die Hand. Einerseits zerfraßen mich die Neugier und das Verlangen nach Antworten, andererseits wusste ich instinktiv, dass sich darin Dinge verbargen, die ich vielleicht gar nicht wissen wollte.
    Erst nach dem Abendessen fischte ich es aus dem Rucksack und schlug es im Licht meiner Schreibtischlampe auf.
    Auf dem Buchdeckel stand wie gesagt kein Titel, aber dafür war oben auf der ersten Seite zu lesen: Ausführliches Journal über die Untaten der wilden Bestie im Norden von Mailand von Anfang Juli bis zum achtzehnten September des Jahres 1792.
    Mir wurde schwindlig, und ich musste meine ganze Armmuskulatur anspannen, um das Buch nicht sofort wieder zuzuschlagen. Ich kniff die Augen zusammen und atmete tief durch wie so oft: Es war zu spät, um in Panik zu geraten, zu spät, um umzukehren. Genaugenommen war es dafür schon seit einiger Zeit zu spät.
    Ich las das ganze Buch in einer halben Stunde: Es waren weniger als sechzig Seiten in großer Schrift. Dann las ich es ein zweites und Teile davon auch noch ein drittes Mal.
    Es war eine Chronik, eine Art öffentliches Tagebuch von einem Verfasser, der es vorgezogen hatte, anonym zu bleiben, und der ganz penibel notiert hatte, was in jenem Sommer geschehen war, der von mir aus gesehen mehr als zweihundert Jahre zurücklag.
    Er erzählte von einem Tier, das urplötzlich in der Gegend um Mailand aufgetaucht war, einer Gegend, die heute Teil der Stadt ist, aber damals, als der bewohnte Stadtkern noch viel kleiner war, auf freiem Feld außerhalb der Stadtmauern lag. Keiner hatte das Tier je richtig gesehen, aber alle spürten seine Gegenwart. Elf Wochen lang trieb es sein Unwesen in den Wäldern und Feldern an den Dorfrändern, tötete und zerfleischte elf Menschen und verletzte weitere. Die Opfer waren alle Kinder oder Jugendliche. Das älteste war dreizehn Jahre alt, das jüngste sechs.
    Die Kreatur hatte die ganze Stadt in einem Klammergriff des Schreckens gehalten. Sie wagte sich auf ihrer Jagd bis zur Stadtmauer vor, sodass sich die Behörden gezwungen sahen, den Ausnahmezustand zu verkünden, bewaffnete Patrouillen auszuschicken und Dutzende von Fallen aufzustellen. In eine dieser Fallen geriet letztendlich ein Wolf, der von den Bauern getötet und offiziell zur »wilden Bestie« erklärt wurde. Nach seinem Tod hörten die Überfälle zwar auf, aber viele der herbeigerufenen Zeugen erklärten, dass es sich bei dem Kadaver keinesfalls um das Monster handeln würde, das unter den Kindern in ihren Dörfern ein Blutbad angerichtet hatte.
    Nach dem dritten Lesen klappte ich das Büchlein zu und starrte noch eine Weile auf den Buchdeckel.
    Das erste Opfer der Bestie war ein zehnjähriges Kind gewesen, das nach Sonnenuntergang im Wald nach einer Kuh suchte, die sich verlaufen hatte. Mitte August hatte die Bestie dann am helllichten Tag zwei Kinder angefallen, Bruder und Schwester, die in einem Maisfeld arbeiteten; das Mädchen trug eine schwere Verletzung am Hals davon, aber sie überlebte als eines der wenigen Opfer. Das Buch lieferte außerdem auch eine minutiöse Beschreibung der Fallen, die man für die Bestie aufgestellt hatte: ausgehobene Gräben, umzäunt von Pfählen, von Weitem verschließbar durch eine über der Falle hängende Tür, im Inneren ein lebendiger Köder, meistens ein Lamm.
    Es war alles da. Jedes einzelne Detail aus meinen Träumen. Ich hatte alle diese Dinge gesehen: Ich war durch die Wälder gelaufen, hatte aus meinem Versteck den fernen Stimmen zugehört und den Geruch von Blut gewittert. Ich hätte sie selbst schreiben können, diese Chronik.
    Aber nicht aus der Perspektive der Opfer.
    Ich stand auf, ging ins Bad und machte das Licht über dem Spiegel an: die ganz normale Veronica. Schmales Kinn, volle Lippen, rot gegen die sehr helle Haut. Braune Augen und kurze, zerzauste Haare.
    Sag es, Veronica, sprich es laut aus.
    Ich presste die Lippen zusammen.
    Wenn du es nicht laut aussprichst, wirst du es nicht akzeptieren. Es wird aber trotzdem wahr sein.
    Ich sah meinem Spiegelbild fest in die Augen. »Ich bin ein Werwolf.«

K apitel 13
    Dienstag, 17. Februar
    Abnehmender Mond
    A ls ich Alex auf mich zukommen sah, ging ich alles im Kopf noch mal durch. Er hatte mich noch nicht gesehen, aber ich stand nur einen Meter von seinem Motorroller entfernt. Zum Glück parkte er immer am Ende der Reihe, weit weg vom Eingang: Dort würden wir wenigstens nicht von allen gesehen werden.
    Okay, Veronica, wenn du dich jetzt nicht konzentrierst, ist es

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