Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
we be what we recall,
Nor dare we think on what we are,
deklamierte eine körperlose Intelligenz Lord Byrons melancholische Verse in der Abgeschiedenheit des verlassenen Schiffes, bevor sie sich daran machte, das Signalfeuer zu entzünden, das den alten Kapitän am Tag seiner Rückkehr sicher nach Hause geleiten würde.
Das Spiel des Narren
Manaos war ein geheimnisumwitterter Planet, um den sich zahllose Gerüchte rankten. Vor allem in der Freak-Szene waren diese Geschichten populär, denn dort zählte allein die Jagd nach dem ultimativen Kick. Künstler, religiöse Fanatiker und Hippies versprachen sich von einem Trip nach Manaos Erfahrungen, die alles bisher Erlebte in den Schatten stellen würden. Diese Außenseiter hatten natürlich keinerlei Aussicht auf ein offizielles Visum, dennoch hielten sich hartnäckig Gerüchte, dass einige von ihnen nach Manaos gelangt und dort sogar sesshaft geworden wären.
Jeremias Waters galt nicht nur auf Grund seiner musikalischen Kreativität als Genie. Seine Talent, das Publikum gleichermaßen zu verzaubern wie zu schockieren, war ebenso legendär wie seine oft monatelangen »Auszeiten«. Immer, wenn Jerry für einige Zeit von der Bildfläche verschwunden gewesen war, versöhnte er seine Anhänger anschließend mit einem regelrechten Feuerwerk an musikalischen Ideen und neuen Facetten seines künstlerischen Schaffens, dem nicht einmal seine Kritiker Substanz und Originalität absprachen.
Durch seine Kontakte zur Freak-Szene konnten Jerry die Gerüchte nicht lange verborgen bleiben, die sich um den Dschungel-Planeten rankten. Waren seine Vorstellungen von Manaos, zunächst nur vage gewesen, änderte sich seine Einstellung mit dem A bsturz in die nächste Krise grundlegend. Während die Welt um ihn herum an Farben und Glanz verlor, verdichtete sich in seinem Bewusstsein das verlockende Bild einer lebenssprühenden Dschungelwelt. Er musste sie finden, wenn er dem allgegenwärtigen Grau entfliehen wollte, das ihn wie ein zäher, unangreifbarer Kokon einhüllte. Er musste sie finden, bevor er erstickte...
Jerry fand schnell heraus, dass die renommierte Leandros-Reederei gerade ein Schiff für eine Fo rschungsexpedition nach Manaos ausrüstete. Offenbar betätigte sich die Reederei auch als Sponsor des Projektes. Er charterte in Newhaven ein Schiff für die Passage nach Malmari Bay und kampierte zwei Tage und zwei Nächte im Schlafsack vor dem Leandros-Anwesen, bis man ihn endlich vorließ.
Zu seiner Überraschung empfing ihn der greise und seit Jahren an den Rollstuhl gefesselte Patriarch pe rsönlich. Der alte Mann hörte aufmerksam und zu, als Jerry sein Anliegen vortrug und sich dabei vor Aufregung mehrfach verhaspelte.
»Ich muss Ihnen gratulieren, Mr. Waters«, seufzte er. »Das ist zweifellos der närrischste Vorschlag, der mir je untergekommen ist. Und genau deshalb werde ich Ihr Anliegen unterstützen. Ich mag Narren; sie sind die einzigen, die dieser Welt Farbe und Hof fnung geben ... Ich muss Sie dennoch warnen, obwohl das Geschwätz eines alten Mannes Sie vermutlich nicht von Ihrem Vorhaben abbringen wird: Dieser Planet hat seine Unschuld schon vor langer Zeit verloren. Auf ihm liegt – lassen Sie es mich etwas pathetisch ausdrücken – der Schatten des Bösen. Sie müssen mir versprechen, die Augen offenzuhalten und gut auf sich aufzupassen.«
Jerry sagte leichten Herzens zu. Um nach Manaos zu gelangen, hätte er auch seine Seele verpfändet oder die Tantiemen der nächsten zwanzig Jahre. Nichts dergleichen wurde jedoch gefordert; stattde ssen ließ ihm Leandros ein Geschenk zum Abschied überreichen. Es sah aus wie ein schmiedeeiserner Brieföffner, steckte aber in einer ledernen Scheide und stammte vermutlich aus einer historischen Waffensammlung. Irgendetwas bewog Jerry, die Waffe trotz ihrer offenkundigen Nutzlosigkeit mit auf die Reise zu nehmen.
Das Schiff startete pünktlich und erreichte schnell Fluchtgeschwindigkeit. Die meisten seiner Mitreisenden hatten seinen Namen schon einmal gehört und gaben sich redliche Mühe, freundlich und kommunikativ zu sein, wenngleich ihnen eine gewisse Verunsicherung durchaus anzumerken war.
Als Jerry den Anblick ihrer grauen, leeren Gesic hter nicht mehr ertragen konnte, schützte er Unwohlsein vor und ließ sich in seine Kabine bringen. Diese Zuflucht verließ der Musiker in der Folgezeit nur selten. Sein Fernbleiben von den gemeinsamen Mahlzeiten begründete er mit der Arbeit an einem neuen
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