Die zweite Invasion - Legenden der Zukunft (German Edition)
ernst. Sie waren allerdings auch ernst gewesen, als sie kurz nach dem Start der Mission für die Virtualisierung aufgezeichnet worden waren. Inzwischen waren Jahrhunderte vergangen, und die Körper der Männer ruhten längst in der geweihten Erde des Bordfriedhofs der »Bona Spes«, während ihr elektronisch gespeichertes Bewusstsein in der Datensphäre des Generationenschiffes weiterexistierte und über dessen Geschicke wachte.
Die Patres hatten diese Last auf sich genommen, weil jemand sie tragen musste . Sie waren zu einer Existenz verdammt, die Erlösung ausschloss, vielleicht nur bis zum Ende der Mission, vielleicht aber auch – und das war ihre größte Sorge – für immer. In den Heiligen Schriften war eine körperlose Existenz gleich der ihren nicht erwähnt, und so waren auch die erbitterten Debatten innerhalb der Congregatio pro doctrina fidei vor ihrem Abflug fruchtlos geblieben. Natürlich hofften sie auf Sein Erbarmen und allein diese Hoffnung bewahrte sie vor dem Wahnsinn, dennoch lastete die Bürde eines so weit über sein natürliches Maß verlängerten Lebens schwer auf ihnen. Die Steuerung der Bordsysteme oblag der Schiffsintelligenz und bedurfte nur im Ausnahmefall ihrer Aufmerksamkeit. Schwerer wog ihre Verantwortung für die Bevölkerung der Biosphären-Reservate, jener von unsichtbaren Maschinen gesteuerten und überwachten Inseln menschlichen Überlebens, deren Bewohner weder von der Existenz des Schiffes noch von der Präsenz der Patres etwas ahnten.
Die Abschottung der Reservate vom Rest des Schi ffes war über Generationen hinweg alternativlos gewesen, doch nun hatten sich die Bedingungen geändert. Nach sechshundert Jahren Flugzeit und zwei Hyperraumsprüngen näherte sich die »Bona Spes« dem vorgesehenen Zielgebiet – einem offenen Sternhaufen zwischen Leier und Schwan mit tausenden Fixsternen, unzähligen Himmelskörpern und errechneten sechsundneunzig Prozent Wahrscheinlichkeit für einen Planeten mit erdähnlichen Bedingungen. Selbst wenn die Suchphase noch einmal mehrere Jahre in Anspruch nehmen würde, mussten die zukünftigen Kolonisten auf ihre Aufgabe vorbereitet werden. Es galt, einen Kulturschock zu verhindern, dessen Auswirkungen nicht einmal die medizinisch-psychologischen Expertensysteme an Bord vorhersagen konnten.
Die Ironie lag darin, dass sich die Bevölkerung der Bioreservate genauso verhalten und entwickelt hatte, wie es die Projektverantwortlichen vorgesehen hatten: Sie hatte die Welt, in der sie lebte, ebenso akzeptiert wie das Gebäude an Vorschriften und T abus, das sie daran hindern sollte, ihre Wohn- und Arbeitsbereiche zu verlassen. Sechshundert Jahre lang hatte die Entwicklung in den Reservaten stagniert; die Menschen waren damit beschäftigt gewesen, sich und ihre Familien am Leben zu erhalten und einen bescheidenen Wohlstand zu erarbeiten, der aber niemals dazu ausreichte, sich aus der ihnen zugedachten Rolle zu lösen. Die Macht der Gewohnheit hatte aber auch dazu geführt, dass sich ihr Interesse mittlerweile fast ausschließlich auf ihr unmittelbares Umfeld beschränkte. Angesichts dieser Umstände waren Zweifel an ihrer Anpassungsfähigkeit durchaus naheliegend.
Nach eingehender Analyse und wiederholter Ko nsultation der psychologischen Expertensysteme hatten die Patres deshalb ein sogenanntes »Reintegrationsprogramm« beschlossen. Die hermetische Trennung zwischen Betreuern und Betreuten sollte schrittweise aufgehoben und die Bevölkerung der Reservate an ihre zukünftigen Aufgaben herangeführt werden.
Die zunächst angestrebte Wissensvermittlung mi ttels hypnopädischer Beeinflussung blieb jedoch ohne erkennbare Wirkung. Gleiches galt für die ersten, eher halbherzigen Versuche, durch bewusst herbeigeführte »Zwischenfälle« und den Wegfall von Tarnmaßnahmen die Neugier der Inselbewohner zu wecken. Offenbar hatte man die Wirkung und Nachhaltigkeit der diesbezüglichen Tabus unterschätzt.
Da die direkte Aufklärung wegen ihrer unkalkulie rbaren Auswirkungen nur als ultima ratio in Frage kam, beschloss der Rat deshalb, Kontakt zu einzelnen Personen aufzunehmen und sie mit der Realität zu konfrontieren. Doch das Projekt stieß auf unerwartete Schwierigkeiten, und so hatten sich die Patres nach dem neusten Rückschlag veranlasst gesehen, ihre Exerzitien für eine Krisensitzung zu unterbrechen.
Auch dieser, der vorerst letzte Kandidat, war mit größtmöglicher Sorgfalt ausgewählt worden. Den Unterlagen zufolge war Mario Sciutto ein selbstb
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