Die zweite Nacht
Kannibalen entkommen und hatte Troja fallen sehen.
Das Einzige, was ich mir bisher aus seinen Erzählungen zusammengereimt hatte, war, dass er vermutlich etwas mit Geschichte zu tun gehabt hatte – oder er besaß ein verdammt gute Allgemeinbildung. Ich musste gestehen, dass mir die detaillierten Schilderungen seiner Abenteuer aber gefielen und sehr unterhaltsam waren.
»Wieso ein Mann?«, fragte ich jetzt und zog einen Apfel aus meiner Westentasche, den ich für mich gekauft hatte.
Der heimatlose Hans wies auf das Obst. »Deine Wangen sehen genauso aus.«
Ich betrachtete die rote Frucht und räusperte mich. »Das könnte daran liegen, dass nur knapp fünf Grad sind.«
Der heimatlose Hans grinste mich breit an. »Du warst schon oft hier, wenn es kälter war, Judith, und da warst du trotzdem blass wie eine aufgequollene Wasserleiche.«
Angesichts des charmanten Kompliments zuckte ich zusammen. »Gut, mal angenommen, da wäre ein Mann.« Ich machte eine kleine Pause, um meine Gedanken zu ordnen. »Ich bin mir nicht sicher, was ich davon halten soll.«
Der heimatlose Hans kaute noch immer seine Banane. »Zerbrich dir nicht so viel den hübschen Kopf. Ist er ein schlechter Mann?«
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Auf keinen Fall.«
Hans zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Dann gibt es auch kein Problem. Du denkst zu viel. Wie geht es Kommissar Andersson?«
Und einfach so war das Thema Mann beendet und auf eine sehr treffende Art hatte Hans mir klargemacht, dass ich vielleicht wirklich zu viel grübelte. Er hatte so eine schlichte Methode, mir das vor Augen zu führen. Worüber machte ich mir schon Sorgen?
»Gut – also eigentlich eher nicht. Ich schätze, er wird im nächsten Buch einen Finger verlieren.« Die Frage nach meiner Arbeit lenkte mich sofort ab.
Der heimatlose Hans verzog das Gesicht und holte die nächste Banane aus der Einkaufstüte. »Aber nicht den Daumen. Das wäre zu brutal.« Dann versank mein obdachloser Kumpel in der Betrachtung seiner Hände und bewegte seine Finger. »Nein, das wäre gar nicht gut.«
»Keine Sorge, ich hatte eher an den Ringfinger gedacht. Aber irgendwie fehlt mir die richtige Methode. Eine Gartenschere?«
Hans kicherte und schüttelte den Kopf.
Ich dachte nach. »Ein Skalpell?«
Abwägend spitzte Hans die Lippen und sagte mit vollem Mund: »Schon eher. Oder er wird mit so vielen Nägeln angenagelt, bis der Finger ab ist.«
»Bah!«, stieß ich angewidert hervor. »Das ist total ekelhaft!« Dann zog ich mein Handy hervor. »Und irgendwie gut. Ich notiere mir das mal kurz.«
Insgesamt blieb ich noch eine gute Dreiviertelstunde, bevor ich mich von der niedrigen Mauer erhob. Ich fühlte mich viel besser als die letzten Tage und war wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen. Wer brauchte schon einen Psychiater? Ich hatte einen Freund, der auf der Straße lebte und dabei erstaunlich philosophisch sein konnte.
Mein Hintern war fast taub und ich musste mir die mitleidigen Gedanken verkneifen, weil ich jetzt in meine warme Wohnung spazieren würde und Hans hier draußen blieb.
»Brauchst du irgendetwas, das ich besorgen kann?«
Genauso gut konnte ich mir diese Frage sparen, denn er verneinte jedes Mal. Trotzdem betrachtete ich ihn aufmerksam und nahm mir vor, ihm Schuhe und Handschuhe zu kaufen. Seine Schuhgröße hatte ich ihm bereits einmal entlockt und mir notiert.
»Judith?«
»Ja?«, fragte ich und warf einen letzten Blick über die Schulter.
»Bringst du das nächste Mal dein neues Buch mit und liest mir ein bisschen vor?« Der heimatlose Hans klang beinahe schüchtern. So kannte ich ihn eigentlich nicht.
Ich nickte. Natürlich würde ich ihm die Freude gern machen – allerdings wunderte ich mich über seine Frage, denn ich war mir sicher, dass er lesen konnte und nur vorgab, es nicht zu können. Ich hatte ihm einmal eins meiner Bücher mitgebracht und er hatte es strikt abgelehnt, es anzunehmen.
»Bis dann.«
»Bis dann. Danke, Mädchen.« Er warf mir einen liebevollen Blick zu, bevor er mit einem Schnaufen wieder auf der Mauer Platz nahm.
Als ich auf den Ausgang des Parks zuging, erstarrte ich. Frederik lehnte mit verschränkten Armen an einem Baum und sah mich an.
Ich brauchte mich nicht umzudrehen, um zu wissen, dass der Pavillon von hier aus sichtbar war. Innerlich wappnete ich mich für Vorwürfe, Fragen und was auch immer er noch auf Lager hatte.
Stattdessen sagte er trocken: »Soll ich dich nach Hause begleiten?«
Nach
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