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Die zweite Stufe der Einsamkeit

Die zweite Stufe der Einsamkeit

Titel: Die zweite Stufe der Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R. R. Martin
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zerbrechlich aus und dumm und irgendwie häßlich. Verkommen. Sie erinnerte mich an die Erde.
    Sie bewegte sich auf das Anlegedock zu, senkte sich von oben her in den Ring herunter, tastete sich zu den Schleusen im bewohnbaren Teil von Cerberus vor. So unsagbar langsam. Ich habe zugesehen, wie sie kam. Plötzlich habe ich mich gefragt, was ich zu den Männern der Besatzung sagen würde, und zu meinem Nachfolger. Ich habe mich gefragt, was sie von mir denken würden. Irgendwo in meinen Eingeweiden ballte sich eine Faust.
    Und plötzlich konnte ich sie nicht mehr ertragen. Plötzlich hatte ich Angst davor. Plötzlich haßte ich sie.
    Deshalb erweckte ich den Strudel.
    Ein rotes Flackern, das sich zu gelben Zungen verzweigte, schnell wuchs, blaugrüne Stöße abfeuerte. Einer wischte dicht an der Charon vorbei. Und das Schiff erbebte.
    Ich sage mir jetzt, daß es nicht klar war, was ich getan habe. Aber ich wußte, daß die Charon ungepanzert war. Ich wußte, daß sie den Strudel-Energien nicht trotzen konnte. Ich wußte es.
    Die Charon war so langsam, der Strudel so schnell. Innerhalb von zwei Herzschlägen brauste der Mahlstrom gegen das Schiff. Innerhalb von drei Herzschlägen hatte er es verschluckt.
    Es war so schnell verschwunden. Ich weiß nicht, ob das Schiff geschmolzen ist oder auseinandergeplatzt oder zerbröckelt. Aber ich weiß, daß es das nicht überstanden hat. Doch es klebt kein Blut an meinem Sternenring. Die Trümmer sind irgendwo auf der anderen Seite des Nullraums. Wenn es überhaupt Trümmer gibt.
    Der Ring und die Dunkelheit sahen genauso aus wie immer.
    Das hat es leicht gemacht zu vergessen. Und ich habe wohl sehr intensiv vergessen wollen.
    Und jetzt? Was mache ich jetzt ? Wird es die Erde herausfinden? Wird es je eine Ablösung geben? Ich will nach Hause.
     
    18. Juni
    Meine Ablösung hat heute die Erde verlassen.
    Wenigstens glaube ich, daß sie das getan hat. Irgendwie war der Wandkalender kaputt, deshalb bin ich mir wegen des Datums nicht ganz sicher. Aber ich habe ihn wieder in Gang gebracht.
    Jedenfalls kann er nicht länger als ein paar Stunden ausgefallen gewesen sein, sonst hätte ich es bemerkt. Also ist mein Nachfolger wirklich unterwegs. Er wird natürlich drei Monate benötigen, um hierherzukommen.
    Aber wenigstens ist er unterwegs.
     
    Bayonne, New Jersey
    Juli 1971

 
Überlagerung
OVERRIDE
     
    Die Abenddämmerung ging sanft über den Hohen Seen nieder, als Kabaraijian und seine Mannschaft auf dem Rückweg von den Höhlen waren. Es war eine ruhige, stille Abenddämmerung; ein Zwielicht, gemischt aus grünen Wassern und milden Nachtwinden und dem langsamen Verblassen von Grottos sanfter Sonne. Vom Heck seiner Barkasse aus sah Kabaraijian ihrem Untergang zu und lauschte den Klängen des Zwielichts über dem Schnurren der Maschine.
    Grotto war eine stille Welt, aber die Klänge waren vorhanden, wenn man zuzuhören verstand. Kabaraijian verstand es. Er saß aufrecht im hinteren Teil des Bootes, eine schmächtige Gestalt mit dunkler Haut und langem, schwarzem Haar und braunen Augen, die verträumt dahintrieben. Eine schmale Hand ruhte auf dem Knie, die andere, vergessen, auf dem Motor. Und seine Ohren lauschten dem Blubbern des Motors im Kielwasser der Barkasse und dem Plitsch-Platsch der Seespringer, die die Oberfläche durchbrachen, und dem Wind, der die herunterhängenden grünen Zweige der Bäume am nahen Ufer bewegte. Im Laufe der Zeit würde er auch die Nachtflieger hören, aber jetzt waren sie noch nicht wach.
    Es waren vier im Boot, aber nur Kabaraijian lauschte oder hörte. Die anderen, größere Männer mit käsigen Gesichtern und leeren Augen, waren schon lange über das Hören hinweg. Sie trugen die eintönigen grauen Overalls toter Männer, und im Hinterteil des Schädels eines jeden Mannes gab es eine Stahlplatte. Manchmal, wenn sein Leichenregler an war, konnte Kabaraijian mit ihren Augen hören und mit ihren Augen sehen. Aber das war Arbeit, harte Arbeit, und die Sache war es nicht wert. Die Anblicke und Klänge, die ein Leichenführer durch seine Mannschaft fühlte, waren blasse Echos von echtem Empfinden, selten nützlich und niemals angenehm.
    Und jetzt, in Grottos abkühlender Abenddämmerung, war Freizeit. Deshalb war Kabaraijians Leichenregler ausgeschaltet, und sein Verstand, von den toten Männern gelöst, ruhte behaglich in seinem eigenen Körper. Die Barkasse glitt zielstrebig am Seeufer entlang, aber Kabaraijians Gedanken kreisten träge – wenn er

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