Die zweite Todsuende
an.
«Verzeihen Sie, daß ich unangemeldet bei Ihnen eindringe», sagte er sehr förmlich, und seine Stimme kam ihm selbst wie eine Bandaufnahme vor. «Es tut mir leid, daß Sie einen Unfall hatten, Mrs. Maitland. Zumindest hat die Polizei von Nyack es so genannt: einen Unfall. Aber deswegen bin ich nicht hier. Haben Sie oder Ihre Tochter gewußt, daß Ihr Sohn an einer tödlichen Krankheit litt?»
Sekundenlang hörte man nichts als Atmen. Dann: «Du meine Güte!» Das war Emily Maitland.
«Wie bitte?» Das kam von Dora Maitland.
«Was wollen Sie damit sagen, Mr. Delaney?» fragte Emily. «Eine tödliche Krankheit?»
«Polymyositis. Eine Muskelkrankheit. Ich habe mit seinem Arzt gesprochen. Es ist mir sehr unangenehm, daß gerade ich Ihnen das sagen muß, aber Victor Maitland hatte nicht mehr lange zu leben. Höchstens noch ein oder zwei Jahre.»
«Victor!» kam es erstickt von Dora. «Mein Kleiner!»
«Tut mir leid», sagte Delaney mitfühlend. «Aber es entspricht der Wahrheit. Haben Sie davon gewußt?»
Sie schüttelten den Kopf, zwei Porzellanpuppen, deren runde Köpfe wackelten.
«Er hat das also nie erwähnt?»
Die Köpfe wackelten wieder verneinend.
«Ach, Mama.» Emily stellte die Kristallkugel hin und legte ihrer Mutter leicht die Hände auf die Schultern. «Ist das nicht furchtbar? Du meine Güte, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Du, Mama?»
«Emily, meine Medizin», befahl Dora Maitland mit viel Würde. «Sir, möchten Sie vielleicht …»
«O nein», beeilte Delaney sich zu sagen. «Für mich nichts. Nein, vielen Dank.»
Er beobachtete Dora Maitland, wußte jedoch nicht zu sagen, woher das Glas kam, das volle Glas, das wie durch Zauberei plötzlich in Emilys Hand war. Wahrscheinlich vom Fußboden, unters Sofa geschoben, als ich hereinkam, dachte Delaney. Er verfolgte genau, wie Emily Dora das Glas reichte, es ihrer Mutter in die Finger drückte. Eine farblose Flüssigkeit: Gin oder Wodka. Kein Eis. Es hätte genausogut Wasser sein können.
«Meinen Sie, das hat etwas mit der Ermordung meines Sohnes zu tun?» fragte Dora Maitland; ihre Stimme klang leise, rauchig, nicht eigentlich heiser, aber abgenutzt wie der Samtbezug des Sofas.
«Es könnte sein», sagte Delaney, bemüht, dieses Gespräch auf eine Viertelstunde, zwanzig Minuten auszudehnen. «Vielleicht aber auch nicht. Victors Frau hat nie etwas von seiner Krankheit erwähnt?»
«Wir haben sie ja so selten gesehen», erwiderte Emily. «Sie hat nie ein Wort davon gesagt.»
«Und Saul Geltman? Hat der auch nie davon gesprochen?»
«Saul? Hat Saul davon gewußt?»
«Ja, er hat es gewußt.»
«Nein, Saul hat uns nichts davon gesagt.»
Delaney nickte. Er sah sich in dem vollgestopften Zimmer um. «Mich wundert, daß Sie keines von den Bildern Ihres Sohnes hier hängen haben, Mrs. Maitland. Hat er Ihnen nie eines geschenkt?»
«Zwei haben wir von ihm bekommen», sagte Emily Maitland. «Porträts. Von Mama und mir. Sie hängen in unseren Schlafzimmern. Das von mir ist ein Akt», ergänzte sie kichernd.
«Ah», sagte Delaney. «Und wann hat er die gemalt?»
«Du meine Güte, das muß Jahre her sein», meinte Emily. «Vor zwanzig Jahren. Mindestens. Er fing damals gerade erst an.»
«Zu malen?» fragte Delaney.
«Nein, gut zu verkaufen», erwiderte Emily. «Gezeichnet und gemalt hat Vic, seit er sieben Jahre alt war. Aber verkaufen taten seine Sachen sich erst vor zwanzig Jahren. Damals fing das an.»
«Dann sind sie heute aber wesentlich mehr wert als damals», bemerkte Delaney.
«Das will ich meinen.» Dora Maitland nickte und konnte gar nicht aufhören. «Viel mehr.»
Delaney warf einen Blick auf seine Uhr und erhob sich.
«Ich danke Ihnen, meine Damen. Tut mir leid, daß ich Sie gestört habe.»
«Du meine Güte», sagte Emily Maitland. «Überhaupt nicht.»
Der Chief wußte nicht, was sie damit meinte, fragte aber auch nicht nach. Emily brachte ihn an die Tür.
«Grüßen Sie Sergeant Boone von mir.» Sie lächelte verschmitzt.
«Das will ich gern tun, Miss Maitland», sagte Delaney ernst.
Er stieg die Treppe hinunter, hörte, wie die Tür hinter ihm ins Schloß fiel. Vor Boones Wagen blieb er stehen und steckte sich umständlich eine Zigarre an. Dann zog er seine Jacke aus, stieg ein, ließ den Motor an. Das Auto war ein Backofen: die Luft stand darin wie eine Wand. Delaney fuhr auf die Straße hinaus und hielt dann gegenüber der Stelle, wo er Boone abgesetzt hatte. Von dem Sergeant war nichts zu sehen.
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