Die zweite Todsuende
unterschrieben und alles gesagt, was wir wissen.»
«Selbstverständlich, selbstverständlich», begütigte er. «Aber das war gleich nach dem Tod Ihres Sohnes, als Sie beide, was nur allzu verständlich ist, vor Schmerz, Schock und Entsetzen noch wie gelähmt waren. Doch jetzt, wo etwas Zeit vergangen ist, können Sie sich vielleicht an etwas Wichtiges erinnern, was Ihnen damals nicht gegenwärtig war.»
«Ich wüßte nicht, was…»
«Ach, Mama», sagte ihre Tochter, lächelte entgegenkommend und zeigte dabei Zähne, so glänzend und weiß wie junger Mais, «warum antwortest du Mr. Delaney nicht einfach auf seine Fragen, damit wir es hinter uns bringen?»
Erbost fuhr ihre Mutter sie an: «Du hältst den Mund!» Dann wandte sie sich wieder den beiden Burschen zu. «Noch etwas Limonade? Bitte, bedienen Sie sich.»
Sergeant Boone erhob sich, um der Aufforderung nachzukommen und schenkte zunächst den Damen nach.
«Vielen Dank, Sir», sagte Emily Maitland keck.
Während Boone sich mit den Gläsern zu schaffen machte, hatte Delaney Gelegenheit, Dora Maitland genauer in Augenschein zu nehmen. Er fand, ihr Gesicht hätte gut als Etikett auf eine Zigarrenkiste gepaßt. Ihre Haut wies die Farbe matten Elfenbeins auf, sie hatte dunkle, funkelnde Augen und tiefschwarz glänzendes Haar, das ihr in großer Fülle auf die Schultern fiel. Das mußte eine Perücke sein, doch paßte sie so gut zu ihrer exotischen Erscheinung, daß Delaney sich fragte, ob sie nicht aus ihrem eigenen Haar gearbeitet sein könnte, das die Kunst des Friseurs dunkler getönt, geölt und zu schimmernden Locken aufgedreht hatte.
Ihr Alter schätzte er auf etwa sechzig Jahre; Gesicht und Haar sah man das nicht an, doch die Hände waren verräterisch. Sie trug ein nicht allzu sauberes Hauskleid aus flaschengrüner Seide. Das Oberteil war wie ein Herrenhemd gearbeitet; der Kragen stand offen und ließ einen prachtvollen, faltenlosen Hals sehen; die Schultern dürften demnach nicht minder glatt sein. Zwar konnte man auch sie durchaus üppig nennen, doch war sie nicht korpulent wie ihre Tochter.
Beide Männer waren sich des Moschusduftes bewußt, der von ihr ausging, und bewußter womöglich noch der reifen Üppigkeit ihres ungeschnürten Körpers. Sie ging barfuß, und ihre Fußnägel zeigten das gleiche Rot wie Fingernägel und Lippen. Knapp unterhalb eines Mundwinkels saß ein kleiner Leberfleck; es hätte aber genausogut eine samtene mouche sein können.
Sie bewegte sich nur selten, besaß die Gabe natürlicher Ruhe, nicht unähnlich der Katze, die gleichmütig auf dem Stuhl in der Nähe schlief. Sie verströmte eine sehr ursprüngliche Sinnlichkeit, die nicht weniger beeindruckte, weil sie teilweise Folge eines Kunstgriffs war. Ihre Erscheinung war so vorsätzlich stilisiert wie die der Kleopatra auf ihrer Staatsgaleere und sie wirkte nicht minder selbstsicher. Dieses Auftreten hätte bei einer jüngeren Frau, die weniger begabt und von der Natur weniger reichlich bedacht worden war, möglicherweise zum Lachen gereizt. Doch keiner der beiden Besucher hatte Lust, über Dora Maitland zu lachen; sie wirkte überzeugend.
«Nun gut, Mr. Delaney, was wünschen Sie zu wissen?»
Ihre Stimme klang tief und kehlig, fast ein wenig krächzend. Zwar hatte sie sich, seit die Besucher hier waren, noch keine Zigarette angezündet, doch hielt Delaney sie für eine starke Raucherin.
Er holte das Notizbuch hervor, und Sergeant Boone folgte seinem Beispiel. Delaney setzte auch noch umständlich seine Lesebrille auf.
«Mrs. Maitland», begann er, «Sie haben ausgesagt, an dem Tag, an dem Ihr Sohn ermordet wurde, wären Sie in der Zeit zwischen zehn Uhr morgens und drei Uhr nachmittags mit ihrer Tochter hier in diesem Haus gewesen. Ist das richtig?»
«Ja.»
«Und daß an diesem Freitag Ihre Haushälterin nicht dagewesen sei, da sie ihren freien Tag hatte?»
«Das stimmt.»
«Die Haushälterin ist Martha, die Dame, die uns eingelassen hat?»
«Ja.»
«Hatten Sie während dieser Zeit irgendwelchen Besuch?»
«Nein.»
«Haben Sie irgendwelche Anrufe gemacht oder bekommen?»
«Ich erinnere mich nicht. Ich glaube nicht. Nein, ich habe während dieser Zeit nicht telefoniert. Emily, du?»
«Nein, Mama.»
«Sind Sie mit Ihrem Auto irgendwohin gefahren?» fragte Delaney. «Zum Einkaufen vielleicht oder um einen Besuch zu machen? Oder einfach, um etwas herumzufahren?»
«Nein, wir sind an diesem Freitag nirgendwohin gefahren. Ich hatte furchtbare Kopfschmerzen
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