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Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann

Titel: Die zweiten Chroniken von Fitz dem Weitseher 01 - Der lohfarbene Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Hobb
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genauso wie ich und hatte ebenso großen Anteil an seiner Erziehung.
    Sobald sie außer Hörweite waren, wandte ich mich an Merle. »Hast du eine Ahnung, was ihm für eine Laus über die Leber gelaufen ist?«
    Sie zuckte die Achseln und lächelte schief. »Er ist fünfzehn. Braucht man in diesem Alter einen Grund, um eine verdrossene Miene zur Schau zu tragen? Mach dir keine Gedanken. Es kann alles Mögliche sein: Ein Kuss verwehrt oder – Schreck! – ein Kuss gewährt. Bocksburg verlassen müssen oder nach Hause kommen. Ein verdorbenes Würstchen zum Frühstück. Lass ihn in Ruhe. Er beruhigt sich wieder.«
    Ich schaute ihm nach, als er und der Wolf zwischen den Bäumen verschwanden. »Vielleicht ist meine Erinnerung an diesen Lebensabschnitt anders als deine«, äußerte ich.
    Während Merle ins Haus ging, versorgte ich ihr Pferd und das Pony Vierklee. Dabei fiel mir ein, dass Burrich mir ungeachtet meiner Laune und Befindlichkeit befohlen hätte, mich um mein Pferd zu kümmern, bevor ich mich davonmachte, um zu schmollen. Nun, ich war nicht Burrich. Ich hätte gern gewusst, ob er Nessel und Chivalric und Nim in genauso strenger Zucht hielt wie seinerzeit mich. Warum war mir nicht der Gedanke gekommen, Chade nach den Namen der übrigen Geschwister zu fragen. Als ich schließlich das Koppelgatter hinter mir schloss, war ich so weit, dass ich mir wünschte, Chade wäre nicht gekommen. Sein Besuch hatte zu viele alte Erinnerungen aufgewühlt. Entschlossen schob ich sie beiseite. Das waren fünfzehn Jahre alte Knochen, hätte der Wolf mich belehrt. Ich spürte kurz zu ihm hin. Harm hatte sich etwas Wasser ins Gesicht gespritzt und war in den Wald gestapft, redete mit sich selbst und fuhrwerkte durchs Unterholz, dass der Lärm auf Meilen im Umkreis alles Wild vergrämte. Ich seufzte um sie beide und ging ins Haus.
    Merle hatte den Inhalt ihrer Satteltaschen auf dem Tisch ausgebreitet. Ihre Stiefel lagen einer quer, einer kreuz, auf der Schwelle, ihr Umhang garnierte einen Stuhl. Das Wasser im Kessel fing eben an zu sieden. Sie stand auf einem Hocker vor meinem Küchenschrank. Als ich eintrat, streckte sie mir einen kleinen braunen Tontopf hin. »Ist der Tee noch gut? Er riecht komisch.«
    »Er ist ausgezeichnet, wenn es mir schlecht genug geht, um ihn hinunterzuwürgen. Komm runter da.« Ich legte die Hände um ihre Taille und hob sie mühelos hoch, obwohl die alte Narbe an meinem Rücken zwickte, als ich sie auf den Boden stellte. »Setz dich hin. Ich mache den Tee. Erzähl mir vom Frühlingsfest.«
    Das tat sie, während ich mein weniges Geschirr zusammensuchte, Scheiben von dem letzten Laib Brot herunterschnitt und das Kaninchenragout zum Wärmen ans Feuer rückte. Ihre Geschichten aus Bocksburg waren so, wie ich sie von ihr zu hören gewöhnt war: Sie schilderte die gelungenen oder blamablen Auftritte von Musikern und Sängern, schwatzte von adligen Damen und Herren, deren Namen ich nicht kannte und schmähte oder lobte die Speisen an der Tafel verschiedener Fürsten, bei denen sie zu Gast gewesen war. Sie erzählte mit Schwung und Laune, brachte mich zum Lachen oder dazu, den Kopf zu schütteln, je nachdem. Das alles tat sie ohne eine Spur von dem Herzschmerz, den Chade in mir geweckt hatte. Vielleicht lag es daran, dass er von den Menschen aus unser beider Vergangenheit berichtete, und seine Geschichten diese Vertrautheit wiederspiegelten. Es war nicht Bocksburg an sich oder das Stadtleben, wonach ich mich sehnte, sondern die Tage meiner Kindheit, die Freunde von damals. Eine gefahrlose Sehnsucht, denn die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Nur wenige dieser alten Bekannten wussten, dass ich noch lebte, und genau so wollte ich es haben. Ich äußerte mich in diesem Sinn zu Merle: »Manchmal wünsche ich mir bei deinen Geschichten, ich könnte nach Bocksburg zurückkehren. Aber das ist eine Welt, die mir verschlossen bleiben muss.«
    Sie schaute mich stirnrunzelnd an. »Warum?«
    Ich musste laut lachen. »Glaubst du nicht, man würde staunen, den Totgeglaubten quicklebendig durchs Tor marschieren zu sehen?«
    Sie neigte den Kopf zur Seite und musterte mich kritisch. »Ich glaube, nur wenige, selbst von deinen alten Freunden, würden dich wiedererkennen. In ihrer Erinnerung bist du ein rosiger Jüngling. Die gebrochene Nase, die Narbe im Gesicht, sogar die weiße Strähne in deinem Haar könnten für sich genommen schon ausreichen als Tarnung. Damals hast du dich gekleidet wie der Sohn eines Prinzen, heute

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