Die Zwischenwelt (German Edition)
Rucksack!“, hörte ich von immer weiter unten.
Es wurde mir klar, was passiert war: Ich hatte den Rucksack ins Rollen gebracht – nun rollte er immer weiter den Berg hinab und Made rannte hinterher.
David erschien: „Was ist hier los?“
„Ich habe aus Versehen einen Rucksack hinuntergekickt – ich hatte ihn gar nicht gesehen. Jetzt ist er weg – und Made auch.“
„Der kommt schon wieder hoch“, sagte David, ohne die Ruhe zu verlieren.
Tatsächlich kam Made eine Weile später wieder, sogar mit dem Rucksack – es war Davids Rucksack gewesen. Wir kehrten zu den Matten zurück. Die Situation war mir peinlich und ich beschloss, mich zwischen die Plastikfolien zu setzten und weiter zu frieren. Ein eisiger Wind war aufgezogen und das Petroleumlämpchen flackerte stark.
„Dann warte ich halt hier, bis die Sonne morgen wieder auftaucht. Ich kann es kaum erwarten“, sagte ich zu David.
„Ja, die ersten Strahlen werden fantastisch sein. Ich freue mich auch darauf.“
Er machte es sich hinter mir bequem. Nach einer Stunde rückte er näher. Er umarmte mich von hinten, so dass mein Rücken sich an seinem Bauch wärmen konnte und an meinem Bauch hielt er meine trockenen Hände. Im flackernden Licht sah ich unsere Hände an und bekam das Gefühl, das ich schon einmal empfunden hatte. Es wurde mir plötzlich bewusst, dass ich damals auf dem Kilimandscharo kein Déjà-vu gehabt hatte: In Wirklichkeit war es ein Blick in die Zukunft gewesen, ich hatte eine Vision von genau dieser Szene gehabt. War schon damals vorausbestimmt, dass ich David hier wieder treffen würde?
Die Nacht war lang. Als es heller wurde, standen wir schon seit einer Stunde auf den Beinen. Niemand hatte geschlafen, wir hatten alle nur auf den Sonnenaufgang gewartet und freuten uns nun alle sehr, als die ersten Strahlen auftauchten. Der Anblick des Sonnenaufgangs war tatsächlich atemberaubend und die frostige Nacht war rasch vergessen, obwohl es immer noch kühl war.
Nach dem Frühstück ging es weiter nach oben. Irgendwann musste ich auf allen Vieren gehen, weil es so steil war und zudem ein starker Wind wehte. Ich hatte Angst, vom Wind regelrecht weggeblasen zu werden. Als ich dann ganz oben ankam, war ich enttäuscht. Ich hatte gedacht, ich würde etwas Spezielles zu sehen bekommen, einen großen imponierenden Krater vielleicht. Ich sah aber nur ein eher kleines rauchiges Loch, das nach faulen Eiern stank. Sollte Christoph wirklich dort hinein? Vielleicht war es eine blöde Idee gewesen, seine Asche dort zu bestatten.
„Und? Wirst du sie hineinwerfen?“, fragte David.
„Ich weiß nicht. Wenn ich die Urne öffne, fliegt mir die ganze Asche ins Gesicht – dann wäre Christoph überall, außer im Krater. Aber wenn ich einfach die ganze Urne hinunterschmeiße, dann mache ich mich des Littering schuldig.“
„Nimm ihn doch wieder mit.“
„Wieso? Ich bin extra auf diesen Berg geklettert, um ihn hier zu bestatten. Mein Ziel war, Christoph hierzulassen – er hätte diesen Berg sicher geliebt. Ich will nicht, dass die ganze Mühe umsonst war.“
„Er hat seine Aufgabe erfüllt.“
„Er hat seine Aufgabe erfüllt? – Was meinst du damit?“
„Du bist seinetwegen hierhergekommen und hast deswegen mich getroffen. Einfach für einen schönen Ausflug hättest du niemals diesen Berg gewählt.“
„Ja, das stimmt.“
„Manchmal ist das Ziel, das man zu haben glaubt, nicht das wirkliche Ziel. Aber das sieht man oft erst im Nachhinein.“
Ich packte die Urne wieder in den Rucksack.
„Du könnest ihn im See bestatten, im Lake Batur“, meinte David. „Oder im Ozean.“
Wir machten uns wieder auf den Weg nach unten.
Ich wusste plötzlich, welcher Ort der ideale für Christoph wäre. Am Tag nach der Rückkehr vom Vulkan, hatte ich mit David abgemacht. Wir hielten ein Bemo an – einen kleinen Bus, der überall anhält, wo man möchte. Wir fuhren für eine ganze Weile, wobei das Bemo jedes Mal hupte, wenn der Fahrer Leute zu Fuß an der Straße entdeckte. Manchmal machten diese ein Zeichen und das Fahrzeug hielt an, um sie mitzunehmen. Alles wurde mitgenommen: Leute mit Hühnern oder Früchten, auch Kinder. Im Innern des Autos war es ziemlich eng und es stank mehr und mehr nach allem Möglichen. Man starrte uns an. Eine Frau, die neben mir saß, kaute grüne Blätter und spuckte immer wieder eine rote Flüssigkeit in einen Plastiksack. Sie schien sehr benommen, aber wenigstens spuckte sie nicht direkt aus dem offenen Fenster, denn
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