Diebin der Nacht
Ofenschirm. Schweigend betrachtete er Mystere in dem warmen Licht.
»Ich sehe nun, wo du dein gutes Aussehen her hast«, kommentierte sie, wobei sie mit dem Kopf auf ein Foto auf dem Sims wies. »Deine Eltern waren ein schönes Paar.«
»Das habe ich auch immer so gesehen«, antwortete er mit eher wehmütigem als bitterem Tonfall. »Und wenn sie das auch in der Öffentlichkeit nicht so zeigten, so waren sie doch sehr verliebt ineinander. Die Zeit schien nichts daran ändern zu können.«
Trotz ihrer neu gewonnenen Entschlossenheit versetzten seine wehmütigen Worte ihr einen Stich ins Herz.
»Rafe?«
»Hmm?«
»Was hast du hinsichtlich Carolines Ultimatum vor? Den Hochzeitstermin im September, meine ich?«
»Mach dir deswegen keine Sorgen«, tat er sie in nüchternem Tonfall ab. »Die Dinge werden sich schon vor September zuspitzen.«
Diese Antwort brachte jedoch nur noch mehr Fragen auf. Genau in diesem Augenblick erschien Ruth in der Tür, um ihnen anzukündigen, dass ihr Essen schon im Speisezimmer serviert sei.
Sie erfreuten sich beide an einem leichten Mahl aus Sandwiches, Käse und frischem Obst, und Mystere genoss ihre friedliche, unterhaltsame Konversation. Weder hatte sie bisher diese Seite an Rafe gesehen, noch hatte sie bisher wahrgenommen, dass er so angenehm und aufrichtig charmant sein konnte. Für einen hartherzigen Geschäftsmann schien er auf jeden Fall sehr belesen zu sein. Er sprach mit Begeisterung von den Romanen des im Ausland lebenden Amerikaners Henry James.
»Aber zur Hölle mit Henry James«, sagte er abrupt und schaute sie auf eine Weise an, die ein nervöses Flattern in ihrem Magen hervorrief. »Lass und nach oben gehen. Ich will dir etwas Wunderschönes zeigen.«
Mit einem dreiarmigen Kandelaber, der ihnen den Weg leuchten sollte, führte er sie die prachtvolle Haupttreppe mit ihrer gedrechselten Balustrade hinauf. Er stellte den Kandelaber auf eine Kommode neben der Tür, nahm sie bei der Hand und führte sie quer durch den großen Raum zu einer breiten Front bis zum Boden reichender Fenster hin.
»Dieses Haus steht auf erhöhtem Gelände«, erklärte er ihr, als er die Vorhänge aus reiner Spitze sowie die brokatene Übergardine beiseite zog. »Den Ausblick weiß man erst nach Einbruch der Dunkelheit richtig zu würdigen.«
Mystere raubte es beinahe den Atem beim Anblick der erhabenen Schönheit Manhattans, das nach Einbruch der Dunkelheit durch Gas und Elektrizität erleuchtet wurde. Lichter glitzerten wie Millionen von Sternen die ganze Upper Bay entlang.
Rafe zog die Riegel zurück und öffnete die Flügelfenster, und sie spürte, wie der sanfte Nachtwind ihr Gesicht wie mit forschenden Fingern liebkoste.
Er stand dicht hinter ihr, seine Arme umfassten sie und sein Kinn lag auf ihrem Kopf, als sie ein paar Minuten lang schweigend schauten, versunken in die atemberaubend schöne Aussicht.
»In diesem Anblick der Stadt gibt es nichts Hässliches und kein Leid«, bemerkte sie schließlich sanft. »Ich wünschte, ich könnte die Stadt immer so von hier aus sehen.«
»Dann bleibt die Zeit einfach hier stehen, für heute Nacht«, antwortete er und küsste ihren Hals. Dann drehte er sie um, damit sie ihn anschauen konnte, und zog sie nah an sich heran, um ihren Mund zu küssen.
»Ja«, stimmte sie in bittersüßem Sichergeben zu. »Und es wird nur die Welt geben, die wir uns selbst erschaffen.«
Er führte sie durch den Raum zu einem Bett mit gewölbtem Baldachin. Als sie schamhaft hinter einen zweiteiligen Paravent neben dem Bett trat, protestierte Rafe.
»Nein. Ich möchte dabei zusehen, wie du dich entkleidest, genau so, wie ich es in jener Nacht im Salon getan habe.«
»Ist das diesmal auch wieder ein Befehl?«
»Nein. Eine Bitte.«
»Dann sollst du deinen Wunsch erfüllt bekommen.«
Er schleuderte seine Schuhe von sich und zog sein Hemd und sein Unterhemd aus, sodass er von der Taille aufwärts nackt war. Sie wusste ja schon, dass er stark war, aber seine harte, muskulöse Brust und sein straffer Bauch überraschten sie erneut aufs Angenehmste.
Er saß am Fußende des Bettes und sah ihr in atemloser Faszination dabei zu, wie sie ihre Kleidung zu einem Haufen um ihre Füße herum fallen ließ. Diesmal verspürte sie keine glühende Scham, sondern zunehmende Hitze, die sich völlig anders anfühlte.
»Dreh dich langsam um«, bat er sie, als sie nackt da stand, und erbetrachtete ihre in sanftes Licht getauchte Gestalt.
Sie gehorchte ihm und konnte beobachten,
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