Diebin der Nacht
folgenden Jahren hatte Sam in seiner Freizeit Recht studiert und war in New York als Anwalt zugelassen worden, und nun diente er zusätzlich als erster Rechtsberater für das Belloch-Untemehmen. Er hatte seine ruhige Hand am Ruder gehabt, als Rafe den steinigen Kurs vom Eisenbahnbauer hin zum Kapitalanleger und Untemehmenseigentümer gesteuert hatte. Während all dieser Veränderungen war Sam stets ein direkter, einfacher, äußerst loyaler Mann mit einem erstaunlich einfallsreichen Geist geblieben.
»Ich werde die Briefe heute Nachmittag abschicken«, sagte Sam. »Gestern sagten Sie, dass es da noch etwas anderes gäbe, das ich für Sie tun könnte. Irgendeine Erkundigung in New Orleans, sagten Sie, glaube ich?«
»Ach ja, das ist richtig.«
Rafe begann, sein Studierzimmer zu durchschreiten, nachdem Sams Frage seine Gedanken zu Mystere Rillieux zurückgeführt hatte. Sein Studierzimmer diente gleichzeitig auch als Firmenbüro. Der Raum war vertäfelt und mit georgianischen Schnitzereien verziert. Die Gaskronleuchter hingen an Seilen in Form von Schlangen von der Decke. Das Licht wurde noch verstärkt durch alte, sieben- armige Kandelaber. Ein Sultanabad-Teppich und gotische Lehnstühle erschienen manchem Besucher als prachtvoll und imposant, anderen einfach nur als kalt und geschmacklos. Rafe für seinen Teil fand Geschmack an alldem, stimmte aber denen voll und ganz zu, die der Meinung waren, dass es ihm an Kultiviertheit fehle.
Mystere Rillieux ... Während er so grübelte, musste er erneut daran denken, wie es sich angefühlt hatte, als er ihre schlanken Hüften in seinem Griff gespürt hatte. Und das Korsett hätte sie eigentlich gar nicht nötig, so viel hatte er zu seiner eigenen Befriedigung überprüfen können. Sie war zierlich und wunderschön, und sie hütete irgendein größeres Geheimnis, wie schon ihr Name es andeutete. Und beim Leibhaftigen, sie besaß die umwerfendsten blauen Augen, in die er je geschaut hatte.
Aber zur Hölle mit ihrem verführerischen Körper, denn sie war es, die ihn in Five Points gedemütigt hatte, dessen war er sich nun so gut wie sicher. Sie war eine gute Schau-
Spielerin, er spürte jedoch, dass irgendetwas in ihrem Inneren sich im Krieg befand gegen das Böse und dass sie beinahe wollte, dass man sie entlarvte. Als ob ... als ob sie eine Adlige wäre, die versucht, sich durch Maskerade zu verbergen.
»Ich möchte, dass Sie sich mit Stephen Breaux’ Anwaltskanzlei auf der Canal Street in New Orleans in Verbindung setzen«, sagte er zu seinem Sekretär. »Sie finden die Anschrift in den Akten. Ich hatte einst mit ihm zusammengearbeitet, als es um einen Vertrag über den Transport von Baumwolle ging. Er ist ein guter Mann und sehr diskret. Lassen Sie seine Leute ein paar Erkundigungen einziehen über Mr. Paul Rillieux und seine Großnichte Mystere, die beide behaupten, aus New Orleans zu kommen.«
Sam, der sich auf einem aufgeklappten Schreibblock Notizen machte, wusste selber, was Diskretion bedeutete. »Welche Art von Erkundigungen genau?«, drängte er. »Auskünfte über ihre Finanzen, Rechtsakten ... private Angelegenheiten ?«
Rafes ausdrucksstarke Lippen pressten sich zu einem zynischen Grinsen zusammen. »Ich sehe, Sie denken wie ein Anwalt. Ich brauche nichts, um es als Druckmittel zu verwenden. Nein, ich denke...«
Seine Stimme verhallte, als er über die Sache nachdachte. Er ging hinüber zu einem Flügelfenster mit Blick nach Nordosten über die Narrows hinweg, seinem liebsten Platz im ganzen Hause, wenn er nachdenken wollte.
Seine Haushälterin ließ die Jalousien zu dieser Tageszeit immer geschlossen, damit die Sonne nicht die Teppiche ausbleichte. Er zog sie auf, gerade noch rechtzeitig, um ein riesiges, ausländisches Dampfschiff mit drei Schornsteinen die Narrows passieren und für die Docks in der Battery bei- drehen zu sehen, wobei die Passagiere für einen ersten Blick auf Manhattan die Heckreling bevölkerten. Diejenigen in der ersten und zweiten Klasse würden eine schnelle Musterung durchlaufen und konnten sich dann auf ihren Weg machen; diejenigen auf dem Zwischendeck jedoch würden zur Abfertigung und medizinischen Untersuchung im nahe gelegenen Castle Garden zurückgehalten werden.
Rafes inneres Auge aber sah lediglich Mysteres makellose, opalisierende Haut, die so weich war. Mehr als einmal hatte er daran gedacht, seine Hände und seine Lippen über diese Haut gleiten zu lassen und ihre aufgestauten Sehnsüchte unter seiner Berührung
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