Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
achtzig Prozent solcher Schwarzgeschäfte auf. Menschliches Versagen als Hauptursache. Weil überhastet gepfuscht wurde. Weil die Polizei als berüchtigt misstrauisch gilt. Weil Versicherungsgesellschaften grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Gepäckdiebstahl nicht passierte, sondern inszeniert wurde. Ich weiß, wovon ich rede, ich habe schon einmal abgezockt. Allerdings nicht hier, sondern in Europa.
Ich stoppe ein Taxi, springe hinein, sage »Get me to the police headquarters«, und der Mann fährt nicht weiter. Das ist ein Witz. In einer Stadt mit einer hochprozentigen Verbrechensrate versteht ein Taxifahrer das Wort Polizei nicht. Und das chinesische Wort »tschaai jan« fällt mir nicht ein, Gehirnverstopfung.
Als ich entgeistert aussteige, will mich der Schlag treffen. Das Hauptfach an meinem Brustgeldbeutel hat sich geöffnet, ich sehe den schwächlichen Druckknopf und registriere sofort, dass das Ticket verschwunden ist, sprich, sagenhafte 1900 HK -Dollar. Plus Reisepass mit Visum, auch weg.
Nicht denken, nur rasen. Diesmal zurück. Was sich jetzt abspielt, ist in meinem Drehbuch nicht vorgesehen. Eine mittlere Katastrophe droht, wenn ich die Papiere nicht wiederfinde: verlängerter Aufenthalt, Neukauf des Flugscheins (mit was?), Gefährdung des gesamten Coups.
Ein Stück laufen, den Rest wieder per Taxi. Der Kerl kaum weniger bockig als sein Vorgänger. Am Fuße des Mount Davis hält er, will nicht in die Dunkelheit hineinfahren. Widerwillig zeigt er auf mein Gesicht. Was ist damit? Ich ducke mich unter den Rückspiegel, ach ja: mein Zombieschädel, schweißtriefend, blutverklebt, voller Dreckspuren. An meinem Hals die fünf rotglühenden Striemen. Vom linken Arm tropft Blut.
Ich gehe allein. Und finde nichts, natürlich nicht, da hoffnungslos überfordert in dieser nachtfinsteren Umgebung. Jetzt hilft nur noch die Polizei, als Suchtrupp. Ja klar, passt genau in die Story, verschärft sogar die Glaubwürdigkeit.
Ein zweites Mal nach unten. Ich wetze die Hauptstraße vor bis zur ersten Bushaltestelle. Sie ist besetzt, ein Licht brennt und in dem engen Büro sitzt ein intelligenter Mensch. Er versteht sofort und greift zum Telefon. Minuten später kommt die Ambulanz, mit Blaulicht und Sirene. Ich soll gleich mitkommen. Ein Missverständnis. Ich winke ab, unterschreibe eine Verzichtserklärung. Die medizinische Versorgung kann warten, erst muss ich Pass und Ticket wiederhaben.
Inzwischen ist die Polizei eingetroffen, ebenfalls mit Lichtorgel und Martinshorn. Obwohl fiebrig und gereizt vom Verlust der Papiere, genieße ich die Situation. Auch Lust zu lachen, lauthals herauszulachen: Notrufeinsatz, zwei große dicke Autos, gesperrte Straßen, neun Sanitäter und Polizisten.
Der von mir berichtete Tatbestand ist offensichtlich: Raubüberfall, zwei Mann schlugen zu und flohen mit meinen beiden Reisetaschen. Das (bisschen) Bargeld noch in meinem Besitz, Ticket und Reisepass beim Handgemenge oder auf dem Weg verloren. Und morgen Abflug nach Frankfurt.
Die Beamten reagieren sofort. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern ziehen sie die einspurige Straße hinauf. Vorneweg vier Mann, die mit Taschenlampen nach den Dokumenten suchen. Nichts, einen halben Kilometer lang nichts.
Der Chef will zur Jugendherberge, um nach Verstärkung zu telefonieren. Das riecht gefährlich. Wie soll ich meine nächtliche Anwesenheit hier rechtfertigen, da ich doch heute früh bereits ausgezogen bin? Und warum bin ich ausgezogen, wenn ich nur noch eine Nacht in Hongkong bleiben wollte? Eingeklemmt zwischen zwei Polizisten auf dem Rücksitz, finde ich rechtzeitig den passenden Notausgang und lüge, dass ich morgens auf dem Weg nach unten mein Gepäck auf halber Strecke versteckt hatte. Der Hitze wegen, um unbelastet nach einer Unterkunft suchen zu können. Ich wollte wenigstens einmal in einem anständigen Hotelbett liegen, mich ausschlafen, mich generalreinigen. Denn hier oben gäbe es kaum Wasser, dazu der unerträglich laute Schlafsaal, die unerträglich versifften Toiletten.
Das leuchtet ein. Doch an der Rezeption der Jugendherberge hört der Stress nicht auf. Meine bis an die Schmerzränder geschundenen Nerven. Ein Fehler und ich stürze ab. Was erfinden, wenn Cheng, der Leiter, auftaucht? Wir hatten uns die letzten Tage mit ihm angefreundet und seine erste Frage wäre: Wo ist Cathy? Eine furchterregende Frage, da ich schon mehrmals ausgesagt habe, allein unterwegs zu sein. Aber Cheng ist nicht da, sein Vertreter kennt mich
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