Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
sonntags ein bescheidenes Mahl bereitzustellen. Ansonsten ernährten wir uns kalt. Außertourliche Kalorienzufuhr, sprich, außerhalb offizieller Esszeiten, war untersagt. Nicht einmal eine Extratasse Kaffee wurde genehmigt. Nicht nachmittags, nicht abends. Die Lagerung von Naturalien erfolgte selbstverständlich auf dem Fensterbrett. Nur in sommerheißen Notzeiten verlagerte er die Margarine und die Milch in den sonst leerstehenden Kühlschrank.
Ich will es gestehen: Eine Zeit lang war ich fasziniert von seinem Tun und Lassen, von diesem unbarmherzigen Willen, sich bis zur Selbstaufgabe zu kasteien, dieser Sucht nach einem unabhängigen Körper, der mit einem Minimum äußerlicher Zuwendung gesund und belastbar überlebte. B .s Leib war straff und biegsam, seine sexuelle Kraft häufig und zuverlässig. Ich wollte leben wie er, wollte mein Fleisch überwinden und stolz sein können auf eine karge, einfachste Existenz. Seine Ideologie, verbreitet mit Hilfe einer klaren Sprache, hatte etwas Verführerisches: absolutes Rauchverbot, eine einzige Tasse Kaffee, ein Minibudget für Kleidung, die strikte Verweigerung von Ruhepausen – all das stählte auf unübersehbare Weise seine Kräfte. Dass er sogar per Fahrrad innerhalb der Stadt seine eigene Post ausfuhr, hatte etwas Überwältigendes.
Erst als mir klar wurde, dass ich ein solcher Mensch nicht war, dass mein leichtsinniges Herz und mein heiterer Umgang mit den Dingen des Lebens nicht umerzogen werden konnten, weder durch Moralpredigten noch durch Prügelstrafen, erst als ich das alles begriffen hatte, begann sich mein Widerstand zu organisieren und unser Dasein schlitterte ins Inferno eines sadistischen Alltags.
Natürlich änderte auch B . sein Verhalten. Sobald er sah, dass ich die demütige Haltung der begeisterten Schülerin aufgab, erarbeitete er ein Programm physisch-psychischer Daumenschrauben, mit deren Hilfe er skrupellos nachlegte.
Eine furiose Eifersucht brach aus. Ein persönliches Treffen, sogar Telefongespräche mit jeder Art von Bezugsperson standen auf der schwarzen Liste: Eltern, Verwandte, Freunde. Männerfreunde wurden überhaupt nicht aufgelistet, so jenseits aller Vorstellung lag ihr Vorhandensein. Selbst seine eigenen Bekannten kamen in die Schusslinie. Er legte mich trocken, hungerte alles aus, meine Neugier auf andere, auf Zuhören und Mitreden.
Ein eisiger Winter begann. Kein Pfennig wurde verheizt. Dafür mit Holzwolle, Filz und Pappe die Fenster abgedichtet. Mit Mützen, je drei Pullovern, Pelzschuhen und Mänteln saßen wir in unserer eigenen Wohnung. Zwei erwachsene Menschen, beide mit einem gehobenen Einkommen, hockten – mitten in einem der reichsten Länder der Welt – wie zwei bis oben hin vermummte Vogelscheuchen auf einer Wohnzimmercouch. Bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt.
Bald konnte ich nicht mehr zwischen einem rasend gewordenen Traum und einer traumatischen Wirklichkeit unterscheiden. Verschärft wurde dieser Eindruck durch die Tatsache, dass wir am Schreibtisch dicht nebeneinander klebten, um im Lichtkreis der einzig gestatteten Lampe zu arbeiten.
Hinterher kamen neue Herausforderungen. Wie ein siamesisches Zwillingspaar deplatzierten wir uns vom Schreibtisch wieder zurück auf das Sofa. Zur Lesestunde. Der Weg dorthin vollzog sich im Dunkeln, da wir inzwischen die eine Lampe ausgeschaltet hatten, um die andere, die sogenannte »Leselampe«, einzuschalten. Wie Diebe der Nacht schlichen wir von Zimmer zu Zimmer. Nur benötigten wir keine Taschenlampen, so leichtfüßig blind bewegten wir uns durch die Finsternis.
Ich spürte, wie sich der Modergeruch dieses perversen Lebensstils in mir ausbreitete. War ich allein zu Hause und bemerkte plötzlich, dass zwei Glühbirnen zur selben Zeit brannten, stürzte ich drauflos, als gälte es, ein offenes Feuer zu löschen. Ich tat, was mein Verstand für schwachsinnig und absurd erklärte. Aber ich war bereits bis in die Nervenspitzen konditioniert. Wie ein Pawlowscher Hund verspritzte ich mein Adrenalin bei der geringsten Missachtung der von B . herrisch niedergeschriebenen Gebrauchsanweisungen.
Nach einem halben Jahr zog ich aus. Für eine Woche zu meiner Schwester. Da ich auch Sport unterrichtete, hatte ich das täglich wiederholte Bedürfnis, mich zu duschen. B . genehmigte nicht einmal eine kalte Brause. Ein Waschlappen war zu benetzen und damit der Körper abzureiben. Bis zu den großen Ferien konnte ich mich fügen, gab es doch in der Schule alle
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