Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)
BEULE
Ich wollte das Fliegen lernen. Und stürzte ab. Ich wollte leicht sein. Und landete im Dreck. Ich wollte sein wie Buddha oder Bond. Easy, cool, ein Lächler. Einer, der Dinge erledigt, die er versteht. Und von Dingen lässt, die andere besser können. Aber ich war nie 007 und nie Gautama, ich war immer nur ich.
In der amerikanischen Pädagogik gibt es den Ausdruck negative learning : um die Welterfahrung derjenigen zu bezeichnen, die länger brauchen als andere. Statt geradewegs auf ein Ziel zuzugehen, machen sie Umwege. Sie lernen »negativ«, sie lernen das, was sie nicht wollen. Erst dann – haben sie Glück – finden sie, was sie bejahen. Die Intelligentesten unter den Langsamen werden gar late bloomers : jene, die spät blühen.
Ich blühte nie, ich lächelte nie. Sagen wir, ich blühte und lächelte nie so wie die Herren Buddha und Bond. Wehmütig blickte ich sie an, ihr Geheimnis war nicht zu enträtseln.
Bis die Beule kam. An einem heißen Sommervormittag in Paris. Mit ihr kam das Glück, die Erleuchtung, dieser selige Zustand von Bescheidung und Erkenntnis. Vor dem Eintreffen der Beule war ich zehn Wochen lang mit dem Rucksack in Asien unterwegs gewesen. Und in keiner Sekunde während dieser Reise kam so viel Helligkeit und Klarsicht über mich wie jetzt. Keine Begegnung und keine Versenkung verschaffte eine solche Einsicht. Diese 11.36-Uhr-Beule war der Moment, in dem ich glücklich und verbeult die Konsequenzen zog und beschloss, nie wieder Hand anzulegen. Als Handwerker. Eben jener Augenblick, ab dem die Umwege, ach, die Irrwege, Vergangenheit sein sollten. Auch der Irrglaube, ich könne schwungvoll einen Nagel in die Wand treiben. Ohne den Nagel oder die Wand oder beides zu ruinieren.
In Bruchteilen einer Sekunde entschied ich, anders zu werden. In dieser Wohnung, meiner dreiundfünfzigsten, sollte das Leid ein Ende haben. Jene Beule, die allerletzte – verpasst beim linkischen Ausholen mit einem Hammer – in einer langen Serie sinnloser Beulen, sie endlich trieb mir den Hochmut aus. Jetzt war ich bereit, abzulassen vom eigenmächtigen Wändepinseln und Regalehämmern. Jetzt, blaugrün geschwollen und dämmernd vor Schmerz, wurde mir plötzlich klar, dass der Erleuchtete und James niemals bastelten und dass meine Hände – sollte irgendein Nutzen in ihnen sein – unter diesen Umständen zu nichts anderem taugten, als die Gelben Seiten durchzublättern und nach einem Handwerker zu telefonieren.
Und so geschah es. Monsieur Duchatel versprach, umgehend vorbeizukommen. Und er kam, sofort. Offensichtlich kannte er sich aus mit Typen wie mir. Talentlose Wichtigtuer, die sich als Selfmademen aufspielten. Souverän griff er in mein Leben ein und konfiszierte, seine erste Handlung, Hammer und Beißzange. Um mich zu entwaffnen. Erst jetzt war ich vor mir sicher. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sich der Meister seiner Arbeit zu und begann mit der Reparatur meiner Irrtümer. Ich war fristlos entlassen. Heiter und entstellt trat ich hinaus ins Freie. Die Heiterkeit hatte Gründe. Ich sah mich um und bemerkte, dass wir alle drei blühten und lächelten. Links der Leuchtende, rechts der Unbesiegbare und mittendrin ich. Wunderbar aufgehoben.
DIE LEERE
»Come back«, ruft er. Ich schrecke zusammen. Verstörter Blick auf den Mann, der vor mir steht. Jäh erinnere ich mich: Meditationsstunde in einem buddhistischen Tempel in Kyoto. Ich habe das Schlagen der Hölzer überhört, die das Ende der Sitzung ankündigten. Und Mönch Genko-san ist an meinen Platz gekommen, um mich zurückzuholen. In die Gegenwart.
Solche Situationen wiederholten sich. Öfters. Ich war hierher gekommen, um nur nach einem Zustand zu suchen: im Augenblick zu leben. Ich suchte nicht nach Gott, nicht nach Erlösung, nicht nach letzten Antworten, ich suchte einzig nach diesem sagenhaften Ort, der Jetzt heißt. Nicht mehr in der Vergangenheit zu streunen, nicht mehr in die Zukunft zu flüchten, sondern: im Präsens zu leben, präsent zu sein. Hatte ich Glück, so war ich das. Vermutlich zwei oder drei Minuten pro Tag. Die restliche Zeit war ich abwesend. Entweder in meinem Kopf oder in meinem Körper. Selten, dass die beiden sich am selben Platz aufhielten. Ich war wie 99 Prozent der Menschheit: Ich war nicht »da«. Nur immer woanders.
Als ich nach acht Monaten Kloster und Stillsitzen wieder in Europa lebte, wusste ich immerhin, dass ich mich permanent vor der Gegenwart drückte. Das war ein Gewinn. Die meisten
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