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Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition)

Titel: Dies beschissen schöne Leben: Geschichten eines Davongekommenen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Altmann
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wissen nicht einmal das.
    Ich hatte noch ein zweites Geschenk bekommen, völlig unbemerkt. Wie eine Droge mit langer Inkubationszeit hatte es sich in mir ausgebreitet. Ich vermute, in der Zeit, als ich dasaß und mit halbgeschlossenen Augen auf den Boden des Dojo starrte, des vollkommen leeren Meditationsraumes. Eben in jenen endlosen Stunden, in denen ich versuchte, das Hirn zu leeren vom Müll belangloser Gedanken. Erst jetzt bemerkte ich es. Ein erstaunliches Geschenk.
    Es war der Tag, an dem ich nach dem morgendlichen Aufwachen wie selbstverständlich die Männer vom Sperrmüll anrief und bat, den Großteil meiner Möbel wegzuschaffen. Es war der Morgen, an dem ich beschloss, »leer« zu werden. Wenn nicht im Kopf, so wenigstens außerhalb von ihm. 48 Stunden später schwor ich mir, jeden Tag ein Stück weniger zu besitzen. Und nach etwa zwei Wochen hatte ich endgültig begriffen, dass Stapeln und Anhäufen das Gegenteil von Leben ist. Je weniger ich verwaltete, sprich, je weniger Gerümpel mich umzingelte, desto »leichter« würde meine Existenz, umso inniger könnte ich mich auf das konzentrieren, was ich für wesentlich hielt. »Get your priorities straight«, sagen sie in New York: Finde heraus, was zählt.
    Wer mir nicht glaubt, den führe ich einen Vormittag lang durch die Galeries Lafayette, das größte Kaufhaus von Paris, führe ihn vorbei an den vierhundert oder fünfhundert mühselig Beladenen, die letzte Nacht wieder keine Frau oder wieder keinen Mann umarmten, wieder nicht lauthals lachten, wieder keine Zeile Poesie lasen und wieder keine halbe Stunde Zeit fanden, um stillzusitzen und wahrzunehmen, was fehlt, ja unheimlich fehlt in ihrem Leben. Und sie deswegen jetzt einen siebenstufigen Bananenmixer kaufen oder eine Armbanduhr mit allen Börsenzeiten der Welt oder ein Handy mit 3333 Apps. Und Mixer und Uhr und Telefon werden sie wieder – und wieder nur hundsgemein kurzzeitig – darüber hinwegtrösten, dass keine Wärme und keine Freude und kein schwungvoller Gedanke sie beflügeln.
    Ich hatte verdammtes Glück. Klar, ähnlich wie meinen Zeitgenossen waren auch mir immer wieder die sinnlicheren Manifestationen des Daseins abhandengekommen. Glück hatte ich dennoch. Wurde ich doch Zeuge einer Begebenheit, die wie eine kleine Erleuchtung wirkte, wie ein Peitschenhieb. Sie spielte in keinem Kloster, kam nicht als Geistesblitz über mich, war nur unübertrefflich irdisch. Denn auf rabiate Weise war mir, einmal mehr, bewusst geworden, dass ich meine siebzig oder achtzig Jahre anders hinter mich bringen wollte als diejenigen, die kein Glück haben, sprich, ich leben müsste wie jene vom Konsum Gezeichneten, die nie die Flucht antraten.
    Hier die Szene, nur Sekunden lang: Ich stand auf dem Parkplatz von Walmart in Oklahoma City und sah einen Mann – mit Tüten schwerst beladen – auf sein Auto zustürmen, hörte, wie er schon von weitem seiner Frau zurief, den Kofferraum zu öffnen, sah ihn gleichzeitig mit titanischer Willenskraft weiterstürmen, um ja nicht zusammenzubrechen unter der Fracht so viel hartnäckigen Raffens, sah ihn tatsächlich bis auf zwei Meter an seinen Wagen herankommen, dann doch das Gleichgewicht verlieren und – unfassbar – mit dem Kopf voraus in der Tiefe des Kofferraums verschwinden, alle Last eisern mit sich reißend. Ein grandioses Bild.
    Wie dankbar ich hinterher war. Denn bald stand nach dem Anblick dieses Geschundenen unverbrüchlich fest: Meine Wohnung ist keine Wärmestube. Jedes Ding, das hinein will, muss sich fragen lassen, ob es aus mir einen sinnlicheren Zeitgenossen macht, einen geduldigeren, einen mutigeren? Gar einen gewitzteren Schreiber? Oder richtet es das Gegenteil an? Macht es tatenlos, träge, verbarrikadiert es meine Träume? Diese Fragen müssen sein. Denn in allen Ecken meines Kopfes spukt ein Satz von Karl Kraus. Der Wiener war nicht Schriftsteller, er war Zen-Meister, naiv und gerissen wollte er wissen: »Gibt es ein Leben vor dem Tod?« Das ist eine bedrohliche Frage. Sie hält wach, sie schürt die Achtsamkeit, sie erinnert ununterbrochen an JETZT .

DIE HINRICHTUNG EINER SCHÖNEN GELIEBTEN
    Ich bin gern Durchlauferhitzer. So will ich von mir reden, das bietet Angriffsfläche, das provoziert, das erleichtert die Identifikation. Und erhitzt die anschließende Diskussion. Epikur meinte einmal, dass in einer geistigen Auseinandersetzung derjenige Sieger ist, der verloren hat. Weil er etwas Neues gelernt hat.
    Ich verliere gern. Unter der

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