Diese eine Nacht mit dir
weggestoßen. Weil auch Lolas Sitz auf dem Rücksitz befestigt war, saß sie jetzt viel zu dicht neben Rico. In seiner Nähe drohten all die Erinnerungen an jene Nacht zurückzukehren. Er hingegen schien nichts dergleichen zu empfinden.
Kein Wunder, dachte Gypsy beschämt. Was ihr Aussehen betraf, hätte sie fast als Obdachlose durchgehen können. Die einzige anständige Kleidung, die sie besaß, war ihre Arbeitskleidung. Und die brauchte sie jetzt ja nicht mehr …
Endlich war er fertig mit ihrem Gurt und richtete sich auf. „Lass den Buggy mal deine geringste Sorge sein“, knurrte er. „Bis wir bei mir ankommen, ist ein neuer da.“
Gypsy gab sich alle Mühe, sich von der Atmosphäre in dem leise dahinschnurrenden Luxuswagen nicht einlullen zu lassen. „Das kannst du nicht so einfach machen … nur weil du ihr Vater bist.“
Seine grauen Augen funkelten sie zornig an. „Ich habe das gleiche Recht auf meine Tochter wie du. Und jetzt, wo ich von ihrer Existenz erfahren habe, werde ich Himmel und Hölle in Bewegung setzen, damit sie nicht ohne mich aufwächst.“
Es hatte keinen Zweck, noch länger zu protestieren, also verkniff sie sich eine Antwort. Männer wie Rico oder ihr Vater stellten sich einfach taub, wenn ihnen etwas nicht in den Kram passte.
Sie wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Wenn Rico erst einmal am eigenen Leib erfuhr, was es hieß, mit einem Baby zusammenzuleben, würde er sie vielleicht doch noch mit Freuden ziehen lassen.
Nicht lange, und sie durchfuhren die wesentlich angenehmere Gegend von Mayfair. Saubere Straßen, teure Autos und noch teurer gekleidete Menschen. Als hätten sie mit Gypsys trister Straße auch die dunklen Wolken hinter sich gelassen, hatte es aufgehört zu regnen. Angewidert blickte Gypsy durchs Fenster. Ihr Vater hatte hier ein Apartment für seine wechselnden Geliebten besessen.
Ricos Auto rollte sanft aus und blieb vor einem eleganten Gebäude stehen. Eine Markise wölbte sich über dem Eingang. Ein Portier eilte herbei und öffnete den Wagenschlag. Gypsy stieg aus und griff nach Lola, die während der Fahrt eingeschlafen war. Mit dem Kind auf dem Arm stand sie da und fühlte sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet.
Wortlos und ohne sie eines Blickes zu würdigen, schnappte Rico Gypsys Taschen und ging auf den Eingang zu. Drinnen marschierte er schnurstracks zum Lift und drückte auf P . Wie könnte es auch anders sein, dachte Gypsy und verzog abfällig das Gesicht, das Penthouse, natürlich.
Als sie aus dem Lift auf einen mit dicken Teppichen ausgelegten Gang traten, stand die Apartmenttür offen. Gypsy konnte eine etwas korpulente Frau mittleren Alters erkennen, die gerade eine Unmenge von Paketen und Schachteln in Empfang nahm und die Männer vom Lieferservice irgendwo ins Innere der Wohnung dirigierte. „Alles muss so schnell wie möglich zusammengebaut werden“, sagte sie gerade, da entdeckte sie Rico. „Mr Christofides – Sie sind schon zurück!“, strahlte sie. „Sie sehen, alles ist angekommen.“
Gypsy, die hinter Rico stand, wurde plötzlich nach vorn geschoben.
„Gypsy, das ist Mrs Wakefield, meine Haushälterin.“
Gypsy registrierte verblüfft, mit welcher Wärme er den Namen aussprach. Diese Stimme hatte sie damals verführt. Sie vermied es, Rico anzusehen, und schenkte der Frau ein etwas gezwungenes Lächeln. Die Haushälterin betrachtete neugierig das Baby auf ihrem Arm.
„Ach, das ist ja das reinste Engelchen! Nun, Sie müssen müde und hungrig sein. Ich dachte mir, dass die Kleine nach der Fahrt vielleicht schlafen will. Deshalb habe ich im Salon ein provisorisches Bettchen hergerichtet. Wenn Sie mitkommen und sie dort hinlegen wollen?“
Mehr als überrascht folgte Gypsy der mütterlichen Frau in einen weiten, in gedämpften Tönen gehaltenen Salon. Den Farben nach unverkennbar ein Junggesellendomizil.
Mrs Wakefield zeigte Gypsy, wo sie Lola hinlegen konnte, und deckte sie sogar noch mit einer Kaschmirdecke zu. „Ich habe selbst fünf Mädchen“, meinte sie redselig. „Aber alle sind jetzt schon erwachsen. Man glaubt ja nicht, wie die Zeit verfliegt. Auf einmal haben sie Freunde und wollen jede Nacht ausgehen, und man sitzt da und macht sich Sorgen. Denken Sie an meine Worte!“
Rico war ihnen gefolgt und stand schweigend neben ihr. Sie spürte seine zornigen Blicke. Wahrscheinlich wurde ihm bei Mrs Wakefields Worten bewusst, wie viel er vom Leben seiner Tochter schon versäumt hatte.
Mit dem
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