Diese eine Woche im November (German Edition)
entschloss sich die Stadtverwaltung, eine Brücke aus Stein zu errichten«, sagt jetzt eine Frau auf Spanisch . »Am Wettbewerb um die Gestaltung beteiligten sich Architekten wie Michelangelo oder Andrea Palladio.«
Auf der anderen Brückenseite entdeckt Tonio die Maschine mit den Lautsprechern. Sie muss kaputt sein. Wo man sonst Münzen einwirft, um sich zu informieren, schallt es jetzt gratis in alle Richtungen. Kein Tourist lauscht, keine Fremdenführerin erhebt den knallgelben Regenschirm, kein Gatte sagt zur Gattin, wie interessant das sei und dass er das nicht gewusst habe.
» Bleib, wo du bist. «
Diese Stimme ist echt. Sie ist schneidend und ganz in Tonios Nähe.
» Bleib stehen. Mit dem Gesicht zum Schaufenster. «
Hinter den Metallspangen des Rollgitters bemerkt Tonio einen Uhrenladen. Gold und Silber, präsentiert auf dunkelblauem Samt. In der Spiegelung der Auslage sieht er einen schwarzen Mantel. Hochgestellter Kragen, ein Kopf mit Brille. Nie könnte er dieses Gesicht vergessen, auch wenn er es nur ein einziges Mal gesehen hat. Bei Nacht, schmerzverzerrt und voll Angst.
» Signor da Silva! «
» Kein Name. « Der andere hat beide Hände in den Taschen. Tonio weiß, es ist nur eine Hand.
» Die Brücke wurde 1591 für den Verkehr freigegeben und blieb bis zum Jahre 1854 der einzige Fußweg über den Canale Grande « , sagt der Apparat.
» Weshalb bist du in meinem Haus aufgetaucht? « , fragt da Silva.
» Hat Ihre Frau Ihnen das nicht erzählt? «
» Lass meine Familie in Ruhe, verstehst du! Durch dich ist sie in Gefahr geraten. « Er schaut sich nach dem Zeitungshändler um. Der Alte hat die Papierpacken auf seinen Knien und schneidet die Verschnürungen auf. » Was geschah mit deiner Freundin? «
» Sie wurde von demselben Mann entführt, der Ihnen … « Ein Blick auf die Manteltasche. » Das angetan hat. «
» Sandro? «
» Heißt er Sandro? «
» Es geht nicht um ihn. «
» Um wen geht es? «
Da Silva schweigt.
» Meine Freundin ist mittlerweile in Sicherheit. «
Die Brille des anderen spiegelt. » Niemand ist vor ihnen in Sicherheit. «
Tonio hebt den Blick. Das Auge der Überwachungskamera ist genau auf das Uhrengeschäft gerichtet und damit auch auf den Mann im Mantel. » Wenn Sie so viel wissen, weshalb gehen Sie nicht zur Polizei? «
Er lacht hart. » Die haben ihre Leute überall. «
» Eine kleine Gruppe im Untergrund – wie sollen die überall ihre Finger im Spiel haben? «
» Wir sind im Land der Mafia. So wird das hier seit Jahrhunderten gemacht. «
» Was gemacht? « , fragt Tonio ungeduldig. » Weshalb wollten Sie mich sprechen? «
Da Silva kommt näher, so nahe, dass Tonio die Angst des Mannes riecht. Er nimmt die Brille ab. Seine Augen sind gerötet. » Die Sache passiert heute. Und kein Mensch hat eine Ahnung davon. «
» Was passiert, wann? «
» Die Juwelen waren nur der Anfang. Sie sind nichts im Vergleich zu dem … « Da Silva nimmt den linken Arm aus der Tasche. Über den Stumpf hat er einen Wollstrumpf gezogen.
» Was wird passieren? Sagen Sie’s mir! «
» Belästige nie wieder meine Familie! «
Eine Gestalt, ein Mädchen, taucht auf. Ihr Kopf bedeckt von einem Schaltuch. Während sie vorbeigeht, nimmt sie den Schal ab. Zugleich erklingt die Melodie Volare aus Tonios Jacke.
Erschrocken springt da Silva zurück. » Hast du mich verpfiffen? «
Tonio greift zum Handy und erkennt, dass es Rinaldo ist. Er hört dessen warnende Worte. Er legt wieder auf. » Wir sind nicht allein. «
Hektisch sieht sich da Silva um. Er will die Treppe hinunter.
» Falsche Richtung. « Tonio hält ihn fest. » Sie kommen vom San-Polo-Ufer. «
» Woher weißt du das? Wer bist du? «
» Ich bringe Sie hier raus. «
Zwei Carabinieri betreten die Treppe von Westen. Tonio und da Silva laufen auf die andere Seite. Nebeneinander erreichen sie den Scheitelpunkt der Brücke. Von unten kommen ihnen drei Männer entgegen. Graue Anzüge, man könnte sie für Bankangestellte halten. Keine Bank Venedigs hat um diese Zeit geöffnet. Die Männer entdecken da Silva, beginnen zu rennen. Sie nehmen zwei Stufen auf einmal. Da Silva macht kehrt und läuft den Polizisten entgegen. Sie halten ihn nicht an. Die Männer in den Anzügen erreichen Tonio. Er zieht sich ans Brückengeländer zurück. Wenn es sein muss, wird er ein drittes Mal in dieser Nacht ins kalte Wasser springen. Er sieht da Silva das andere Ufer erreichen, sieht, wie die Männer ihm folgen. Er beobachtet die
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