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Dieser Mann ist leider tot

Dieser Mann ist leider tot

Titel: Dieser Mann ist leider tot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Bishop
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letzte O schwebt in Spiralen über die Wendeltreppe zur photographischen Galerie hinauf, zum Vorführraum und zu dem versteckten Schlafzimmer, in welches Grace manchmal Zuflucht nimmt, wenn Hiram fort ist. Dort muß auch ihr geheimnisvoller Liebhaber sich verborgen haben. Eine Kamera auf einem Kran fährt zurück, um ihr Voranschreiten aufzunehmen, und sie steigt die Treppe hinauf.
    Niemand in der Photographiegalerie. Niemand in den Polstersesseln des Kinoraums. Niemand in ihrem versteckten Schlafzimmer.
    Luciano, scheint es, will, daß sie sucht. Filmisch gesehen hat diese Strategie einen gewissen Hitchcock’schen Charme, aber Grace ärgert sich allmählich über die Hingabe, mit der dieser hochnäsige Mistkerl den Ungreifbaren spielt. Sie marschiert von einem Ende des ersten Stocks zum anderen, und ein schwerfälliges Schwanken verrät, welcher Stimmung sie ist.
    »Verdammt, Luciano! Heb deinen Arsch hier raus!«
    Keine Antwort. Hat er seinen Flug verpaßt? Hat er den Schlüssel verloren, den sie ihm geschickt hat? Wurde er aufgehalten – durch einen Todesfall in der Familie, durch Dreharbeiten, durch eine Verpflichtung, die sein persönliches Erscheinen erforderlich macht? Na, dann hätte er anrufen und es ihr sagen sollen. Aber natürlich ist fast jeder Schauspieler, ob sechzehn oder sechzig Jahre alt, ein selbstverliebter Jüngling. Die bestürzende Ähnlichkeit mit ihren ersten beiden verschlagenen Ehegatten ist deutlich. Hätte sie es inzwischen nicht besser wissen müssen? Jawohl, Sir. Sie sollte es auf jeden Fall besser wissen.
    »Weiterdrehen«, befiehlt Grace. »Ich weiß, ich habe für einen Moment den Faden verloren, aber ich hab ihn schon wieder. Wirklich.«
    Sie betritt den Vorführraum des Kinos, wühlt in der Filmbibliothek herum und findet eine unbeschriftete Dose, die sie vor zwei oder drei Jahren hinter den anderen versteckt hat. Luciano hat sich nicht gezeigt, aber zumindest kann sie sich selbst zeigen. Und sich in vorteilhafter Weise frisch, ja brillant zeigen, indem sie einen Film in den Projektor legt, der gedreht wurde, als sie fast noch ein Kind war. Eine Schauspielerin dabei zu filmen, wie sie einen Film von sich selbst zeigt, ist ein allzu sehr auf sich selbst bezogener Ansatz, als daß es besonders interessant sein könnte, aber mochte der Regisseur in ihrem Kopf ruhig trotzdem weiterdrehen. Sie war selbst immer ihr bestes Publikum, und ›The Broken Bubble of Thisbe Holt‹ ist es wahrscheinlich wert, noch mindestens einmal angesehen zu werden, bevor sie stirbt. Sie war grauenhaft darin – es war ein wirklich schlechter Film –, aber ausgesehen hat sie wahrscheinlich in keiner ihrer Haupt- und Nebenrollen jemals besser. Aus diesem Grund hat sie diese Einzelkopie des Films aufbewahrt, nachdem sie fast alle anderen aufgekauft und kaltblütig vernichtet hat.
    Wenig später sitzt sie zusammengesunken auf einem Sitz am Mittelgang, während der zweite Film, den sie gedreht hat, lautlos – sie hat den Ton heruntergedreht – auf dem hohen weißen Rechteck ihr gegenüber abrennt. Zweidimensionale Bilder tanzen und hüpfen auf der Fläche. Das Gesicht von heute ist erhellt von dem zerrissenen Strahlen, das vom wehmütigen Antlitz ihres neunzehnjährigen Ich herniederströmt. Und Grace ist sicher, noch eine Kamera filmt die Interaktion zwischen ihr und der unreifen Göttin, leuchtend in der Zelluloid-Apotheose.
    Diese Gewißheit überzeugt sie davon, daß irgendein Höhepunkt bevorstehen muß, daß sie nicht länger zurückgelehnt dasitzen und ihre Tochter beäugen kann – nein, nicht ihre Tochter, sondern einen jüngeren Klon ihrer selbst –, nur um einer feigen Sehnsucht willen, dem Prozeß des Alterns aus dem Weg zu gehen. Etwas wird geschehen … nicht oben auf der Leinwand, sondern im absurden Theater ihres eigenen Lebens.
    »Luciano!« ruft sie noch einmal. »Luciano, ich gebe dir noch eine gottverdammte Chance!«
    »Hier bin ich«, erklärt Luciano, und in der phallischen Gestalt einer acht Fuß langen Boa constrictor erhebt er sich zwischen ihren ausgestreckten Beinen vom Boden, schiebt seinen stumpfen Reptilienkopf nur eine Handbreit vor ihr Gesicht. Lucianos Zunge zuckt hervor, ein gespaltenes Fädchen voll vernichtender Elektrizität, und die flüchtige Berührung der beiden kalten Spitzen läßt Graces Lippen ersterben, ihr Herz stehenbleiben.
    »Mein Gott!« ruft sie reflexhaft aus.
    Glotzäugig weicht sie vor Lucianos Kuß zurück, umklammert grimmig die Armlehnen ihres

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