Dieser Mensch war ich - -: Nachrufe auf das eigene Leben (German Edition)
einem Dienstag im Bibelkreis sprach mich dann plötzlich Stefan an und fragte, wie ich diesen Psalm fände. Ich lief total rot an im Gesicht, bekam rote Flecken am Hals und brachte kein Wort heraus. Es war schrecklich peinlich, alle schauten auf mich. Als die Runde vorbei war, steckte mir Stefan beim Gehen einen Zettel zu, auf dem stand: Gehen wir mal einen Kaffee trinken? Ich würde dich gerne besser kennenlernen. Ich nickte ihm zu.
Seit zwölf Jahren sind wir glücklich verheiratet, und das Schönste ist, ich darf stottern, wie ich will. Vor allem Wörter, die mit A oder K beginnen, kriege ich nur langsam raus. Stefan hört mir so lange zu, bis ich ausgesprochen habe. Wenn ich mir überlege, wie wenig den Menschen zugehört wird, die keinen Sprachfehler haben und flüssig und schnell reden, dann ist das doch ein riesengroßer Liebesbeweis, oder?
Allerdings fühle ich mich nur sicher, wenn ich zu Hause bin. Natürlich habe ich mir eine Arbeit gesucht, bei der ich nicht sprechen muss. Ich mache seit fünfzehn Jahren Lektorate für einen Wissenschaftsverlag. Bei dieser Arbeit kann man alles aufschreiben, es muss nichts gesprochen werden. Mein Vater hat mir diese Arbeit damals besorgt, Gott hab ihn selig. Ich weiß es nicht, aber ich glaube, die sind ganz zufrieden mit mir. Zumindest habe ich noch nichts Gegenteiliges gehört. Dass ich stottere und deswegen ein sehr unsicherer Mensch bin, das hatte mein Vater damals dem Chef gesagt. Die waren so nett und haben mich noch nie angerufen oder sehen wollen.
Sobald ich unsere Wohnung verlasse, bekomme ich oft Angstattacken. Im Supermarkt, in der Reinigung, im Bus. Nicht immer, aber phasenweise schon. Freundinnen habe ich schon ein paar, aber nicht so viele. Ich habe das Gefühl, dass es denen einfach zu lange dauert, bis ich ein Wort herausgebracht habe. Da verlieren die dann irgendwann das Interesse an mir. Daran, was ich denke und fühle. Mit manchen habe ich eine sehr nette Mail-Freundschaft. Aber das hat natürlich seine Grenzen, denn echte Nähe kann da nicht entstehen.
Aber ich habe ja Stefan. Solange ich ihn habe, kann mir nichts passieren. Noch nicht mal der Tod. Und ich habe meinen Glauben. Er trägt mich, seit ich Kind bin. Ich kenne die Bibel in- und auswendig. Na ja, das mag vielleicht etwas übertrieben sein, aber ich weiß schon viel. Wenn ich an Stefan und an Gott denke, dann fühle ich mich nicht klein, und dann habe ich auch keine Angst. Dafür bin ich sehr dankbar. Es hätte wirklich deutlich schlimmer kommen können in meinem Leben, ich hätte unendlich einsam sein können. Danke, Stefan, dass du mich damals besser kennenlernen wolltest. Deine Liebe ist das allergrößte Geschenk in meinem Leben.
Und du weißt schon, welche Bibelstelle ich mir wünsche, wenn ihr mich begrabt. Es ist natürlich die, von der du damals wissen wolltest, was ich über sie denke.
Eva Schilling, 52 Jahre, Brustkrebs
verstorben im Mai 201*
Mir war es immer wichtig, mög lichst selbstbestimmt zu leben
Ich bin Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben, weil ich für mich die Freiheit in Anspruch nehme, mein Leben und Sterben selbst zu bestimmen. Ich bin nicht gläubig und halte den Einfluss und Zwang der Kirchen, in ihrem Sinne gottgewollt sterben zu müssen, für vermessen. Das Argument, Sippenmitglieder könnten Einfluss auf den Sterbewilligen nehmen, um an die Erbschaft zu kommen, mag in Einzelfällen stimmen. Auf meine Verwandten und Freunde kann ich aber vertrauen, und so habe ich in der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben verfügt, keine lebensverlängernden Maßnahmen zuzulassen.
Mir war es immer wichtig, möglichst selbstbestimmt zu leben und durchsetzungsfähig zu sein. Auch meine drei Kinder habe ich versucht, in diesem Sinne zu erziehen, Zivilcourage zu zeigen und sich nicht zu ducken. Ein Beispiel für dieses Erziehungsgelingen war meine Jüngste. Als ihre Lehrerin sie aufforderte, ihren Fuß von der Bank herunterzunehmen, erklärte die Erstklässlerin: » Meine Mutter hat gesagt, das ist gesund.« Die Angst vor Obrigkeiten kenne ich noch aus meiner Jugendzeit. Vielleicht ist es heute anders, ich weiß es nicht, ich habe keine Enkel.
Was meine Ehe betrifft, gab es gelegentlich ein meist scherzhaftes Geplänkel, wer das Sagen hat. Einmal erinnere ich, wurde es ernst. Ich hatte eine Vase getöpfert und fand sie gelungen genug, sie ins Fenster zu stellen. Mein Mann hingegen fand sie unter Niveau und drohte, alle seine Bilder zu zerreißen,
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