Dieser Sonntag hat's in sich
gewerbliche
Zentrum — weist eine komische Mischung aus Tante-Emma-Läden, die schon seit
Generationen hier sind, schicken neuen Boutiquen, Pensionen und den
Handelsketten, die sich überall breitmachen. Modisch gekleidete Kauflustige aus
den Vorstädten und den wohlhabenden Stadtvierteln bestimmen zusammen mit Punks,
Junkies und hier wohnenden Müttern mit ihren Kleinkindern das Straßenbild.
Einige Anwohner fürchten, daß Pizzarestaurants und Läden, die rund um die Uhr
geöffnet sind, den Charakter dieses Viertels zerstören werden; andere — großenteils
ältere Leute mit kleinen Renten — sind froh über die billigen
Einkaufsmöglichkeiten in den Handelsketten. Alle Leute ärgern sich darüber, wie
die medizinische Fakultät der University of California sich immer mehr von
Parnassus Heights herunterschiebt und die besten Immobilien verschlingt. Im
Haight-Viertel herrscht ein beständiges Tauziehen zwischen Verbesserung der
Lebensqualität und sozialer Verantwortung. Es bietet mannigfache Möglichkeiten
für Aktivisten wie Vicky Cushman, die sich für ihre Gemeinde engagieren.
An der Seventeenth Street kreuzte ich
Buena Vista Heights und fuhr die Ashbury hinunter. Es war einer von jenen
Tagen, an denen man erkennt, daß der Sommer in den Herbst übergeht: Der Himmel
zeigte das klare Blau des herbstlichen San Francisco, und die Färbung der
Blätter deutete den Wechsel der Jahreszeiten an. Als ich von der Ashbury in die
Sackgasse der Cushmans oberhalb der Frederick Street abbog, stand ich einer
Reihe hoher Pappeln gegenüber, deren leuchtendgelbes Blattwerk so überwältigend
schön war, daß es mir fast den Atem raubte. Direkt dahinter befand sich die
efeubewachsene Ziegelmauer des Anwesens, das die Leute hier schon immer »die
Schlösser« nannten. Jetzt waren es die Cushman-Schlösser.
Die »Schlösser« waren eine Gruppe von sechs
kleinen, mit Türmchen versehenen Gebäuden, die auf einem Hektar Waldland
angeordnet waren. Da eine hohe Mauer die gesamte Anlage umgab, sah man von der
Straße aus nur die dunklen Ziegeltürmchen mit ihren verschlafenen, steil
abfallenden Schieferdächern und die unterteilten oberen Fenster. Jedes Gebäude
hatte eine andere Funktion: Wohnbereich, Schlafzimmer, Kinderzimmer,
Künstlerstudio, Gesindehaus und Garage. Sie waren nur durch Steinpfade, die
über die Gärten und Rasenflächen verliefen, verbunden. Gerry Cushmans Freund
bei All Souls hatte mir erzählt, daß die »Schlösser« in den dreißiger Jahren
von irgendeinem unbedeutenden Zeitungsverleger, der sich für einen potentiellen
William Randolph Hearst hielt (aber bald darauf bankrott gegangen war), erbaut
worden waren. Diese Gebäude waren wahrscheinlich als Generalprobe für San
Simeon gedacht. Im Laufe der Jahre war das Anwesen durch viele Hände gegangen,
bis die Erben des letzten Besitzers es in den siebziger Jahren leerstehen
ließen und es von Hausbesetzern übernommen wurde. Anfang der achtziger Jahre
hatte Gerry Cushman das Grundstück für den reinen Landwert erworben. Nach einem
langwierigen Prozeß, der nötig war, um die Hausbesetzer zu vertreiben, zogen
Gerry, Vicky und ihre zwei Kinder in die »Schlösser« ein und ließen sie wieder
in ihrem früheren Glanz erstehen.
Ich parkte meinen MG unter den Pappeln
und ging zu dem metallbeschlagenen Holztor hinauf. Neben dem Tor war eine
Sprechanlage; ich drückte den Knopf. Als eine verzerrte Frauenstimme
antwortete, stellte ich mich vor und fragte nach Vicky. Es folgte eine Pause,
und dann sagte die Stimme: »Das bin ich. Ich kenne Sie, oder? Von All Souls?«
»Ja. Ich glaube, das letzte Mal haben
wir uns bei der Weihnachtsfeier gesehen.«
»O Gott, ja. Sie sind die Detektivin
mit dem Rezept für diesen hinterhältigen Bourbon-Punsch, von dem wir alle so
betrunken wurden.«
»Schuldig.«
»Warten Sie einen Moment. Ich lasse Sie
herein. Ich bin im Hauptgebäude — das große Haus am Ende des Weges. Die Tür ist
offen, kommen Sie einfach herein.«
Der Türöffner ertönte, und ich drückte
gegen das Tor. Es öffnete sich auf einen breiten gefliesten Weg, der von
Eukalyptusbäumen gesäumt war. Die Rinde der Bäume löste sich in großen,
rissigen Streifen und hing wie herabfallende Locken an den Stämmen; die Blätter
glitzerten silbrig, wenn sie von der leichten Brise bewegt wurden. Ich konnte
kaum glauben, wie ruhig es auf dieser Seite der Mauer war. Man fühlte sich in
eine andere Welt versetzt.
Ich folgte der Kurve des Weges. Vor mir
stand das
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