Dieser Sonntag hat's in sich
Arbeiterkinder wie die McCones. Aber der Übermut, mit dem sie
aus den Schultüren herausrannten und zu den Bussen und den teuren Autos liefen,
überraschte mich. Ich hätte fast Betsy Cushman übersehen, die mit einem etwas
älteren Mädchen den Bürgersteig entlangging. Das andere Kind sah ihr so
ähnlich, daß es wohl ihre Schwester Lindy sein mußte.
Betsys grüne Uniform war bös
zerknittert, und ihre weiße Bluse hing auf einer Seite aus ihrem Rock heraus.
Ihr lustloser Gang betonte ihre Stämmigkeit. Lindy war größer und schlanker,
aber sie hielt sich krumm; ihr langes, blondes Haar sah fettig und ungekämmt
aus. Die beiden machten einen so niedergeschlagenen Eindruck, als ob sie
schlechte Noten bekommen hätten.
Mitfühlend schüttelte ich den Kopf.
Ihre Mama war zu beschäftigt, um ihren Aufzug zu bemerken. Aber wie stand es
mit Irene — Rina, wie sie sie nannten? War es nicht ihre Aufgabe, dafür zu
sorgen, daß diese Kinder ordentlich hergerichtet und gekleidet waren? Der ganze
Cushman-Haushalt schien auf dem absteigenden Ast zu sein, und Lindy und Betsy
waren die unschuldigen Opfer.
Ich löste mich von dem Baum und
begrüßte Betsy. »Hallo«, sagte ich. »Erinnerst du dich noch an mich — ich bin
Sharon, eine Freundin deiner Mama.«
Über das Gesicht des Mädchens ging ein
Leuchten, und sie wandte sich an ihre Schwester. »Lindy, weißt du noch, vor ein
paar Tagen habe ich dir erzählt...«
Lindy aber war das Kind ihrer Mutter.
Sie blieb stehen und musterte mich kritisch von oben bis unten. »Sie haben Mama
am Donnerstag besucht. Sie hat Betsy angeschrien, weil wir Popcorn machen
wollten, und später am Abend ist sie ganz ausgeflippt.«
»Ich nehme an, ihr habt das ziemlich
satt, hm?«
»Und wie. Und Papa auch. Sie macht ihn
verrückt und uns auch. Wenn das so weitergeht, fürchten wir, daß Rina kündigen
wird...« Sie brach ab und schaute zur Straße. »Wo ist Rina überhaupt?«
»Da drüben, hinter dem Bus.« Ich führte
sie in die Richtung.
»Was, glaubt ihr, hat eure Mama?«
Lindy zuckte die Achseln. »Sie dreht
durch. Das passiert. Die Mutter meiner Freundin Judy ist auch übergeschnappt
und hat sich die Pulsadern aufgeschnitten. Das ganze Bad war voll Blut, bevor
sie endlich die Tür aufbrechen konnten. Widerlich.«
Ich dachte an meine eigene Kindheit;
damals schien es mir, als hätte ich unglaublich viele Sorgen. Mein Vater war
bei der Marine und einen Großteil der Zeit auf See; Mama mußte die Familie
praktisch allein versorgen. Wir hatten nie genug Geld für all die Dinge, die
wir zu brauchen glaubten. Das Haus schien viel zu klein für uns sieben, und ich
verbrachte meine Teenagerzeit damit, um Ruhe und Frieden zu beten. Aber niemand
hatte sich im Badezimmer die Pulsadern aufgeschnitten; niemand war
übergeschnappt.
Vorsichtig sagte ich: »Ich glaube
nicht, daß es mit eurer Mama so weit kommen wird.«
»Woher wollen Sie das wissen?« sagte Betsy.
Wir hatten jetzt den Randstein erreicht. Es überraschte mich, daß sie ihre Hand
in meine legte, bevor wir die Straße überquerten. »Es wird immer schlimmer mit
Mama«, fügte sie hinzu. »Am Samstag abend ist sie richtig ausgeflippt.«
»Wer hat euch das erzählt?«
»Das muß uns keiner erzählen.« Lindys
Stimme klang bitter und um Jahre älter als die einer Elf- oder Zwölfjährigen,
für die ich sie hielt. »Wir können es hören, wenn sie das Fenster offenlassen.«
»Was habt ihr genau gehört?« Ich
verlangsamte meinen Gang, so daß sie reden konnten, bevor wir das Auto
erreichten.
»Das gleiche wie immer. Mama hat
gebrüllt, daß Papa ein Verhältnis hat.« Auf meinen Seitenblick hin sagte sie:
»Wir wissen alles über Verhältnisse. Er hat nein gesagt. Sie hat weiter
geschrien, daß er ein Blödmann ist und alles kaputtmacht. Sie hat gesagt, für
sie hätte er das niemals getan. Dann hat sie gedroht zu verraten, wo... und dann
gab’s Scherben. Wenn sie so richtig in Fahrt ist, schmeißt sie immer Sachen
kaputt.«
Das paßte zu dem, was mir Vicky erzählt
hatte, daß dieser Streit nur eine weitere Folge in der Schmierenkomödie ihrer
Ehe war. Und doch paßte es auch wieder nicht. Diese Affäre mußte wichtiger sein
als die anderen Verhältnisse, die Gerry gehabt hatte, wenn Vicky behauptete,
daß er »alles kaputtmacht«.
»Lindy«, sagte ich, »was genau hat sie
gedroht zu tun?« Die Mädchen wechselten einen Verschwörerblick. Wir haben
uns gegenseitig versprochen, niemandem etwas zu sagen.
»Wollte sie
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